LEITARTIKEL

Erstaunliche Beharrungskraft

Du wirst immer wieder etwas Törichtes tun, doch tu es mit Hingabe", forderte einst Sidonie-Gabrielle Claudine Colette, Schriftstellerin und die erste Frau, der Frankreich ein Staatsbegräbnis gewährte. Nun weckt Deutschlands Finanzsektor nicht...

Erstaunliche Beharrungskraft

Du wirst immer wieder etwas Törichtes tun, doch tu es mit Hingabe”, forderte einst Sidonie-Gabrielle Claudine Colette, Schriftstellerin und die erste Frau, der Frankreich ein Staatsbegräbnis gewährte. Nun weckt Deutschlands Finanzsektor nicht zwangsläufig eine Assoziation mit Savoir-vivre. Offen zutage aber liegt, dass auch seine Exponenten Fehler mit großer Bereitschaft zur Aufopferung begehen. Das Problem: Sie begehen immerzu den gleichen Fehler. Sie korrigieren falsche Einschätzungen zu spät und bringen erst, wenn sie keinen anderen Ausweg mehr sehen, den Mut auf, diese zu revidieren. In Zeiten von Corona, in denen so vieles, was bisher unmöglich schien, plötzlich doch so rasch geht, wirken diese Beharrungskräfte noch erstaunlicher.Die Deutsche Bank gab sich zu lange dem Glauben hin, sie werde als Gewinnerin aus der Konsolidierung im Investment Banking hervorgehen, weil nur sie den Gesetzen der Schwerkraft aufsichtlicher Risikogewichte fürs Handelsgeschäft und operationeller Risiken zu trotzen vermöge. Erst die Nahtoderfahrung im Herbst 2016, als die US-Justiz von der Bank wegen windiger Hypothekengeschäfte 14 Mrd. Dollar forderte, brachte die Wende, die im vergangenen Jahr im Abschied vom Selbstbild der globalen Investmentbank mündete. Die Commerzbank gibt sich seit 2009 der Vorstellung hin, sie könne im Zinstief mit einer Wachstumsstrategie fürs Massen- und Firmenkundengeschäft reüssieren, ohne ihre Kosten drastisch zu reduzieren. Erst seitdem das Kurs-Buchwert-Verhältnis auf 0,19 gefallen ist und der Finanzinvestor Cerberus öffentlichkeitswirksam Alarm geschlagen hat, reift im Management die Erkenntnis, dass die Commerzbank schnell eine effektive Strategie nicht nur erarbeiten, sondern auch umsetzen muss. Die Seelenruhe, mit der sich die deutsche Kreditwirtschaft im Zahlungsverkehr die Butter von Apple, Paypal und US-Beteiligungsgesellschaften vom Brot nehmen lässt, wäre ein weiteres Beispiel.Vorerst im Stadium der Realitätsverweigerung verharrt noch Wirecard-Chef Markus Braun, der den Grund der Aufregung um den Zahlungsabwickler nach wie vor nicht so recht zu verstehen scheint. In Abwandlung einer alten Händlerweisheit darf man festhalten: Wenn Du überall nach der Ursache eines Problems suchst und es nirgends findest, dann spricht einiges dafür, dass Du das Problem bist. Mit großer Ausdauer hat der Chef und Großaktionär des Dax-Konzerns, der am heutigen Donnerstag, wenn nicht wieder etwas dazwischenkommt, endlich seine Jahreszahlen für 2019 vorlegen wird, Alarmsignale, was die Rechnungslegung und im Unternehmen Compliance angeht, ausgeblendet. Nun ist die Lage derart eskaliert, dass sich die Frage stellt, ob es besser wäre, wenn EY das Testat verweigern und Braun damit zwingen würde, seinen Vorstandsposten zu räumen. Die Kollateralschäden zeigen sich schon jetzt auf breiter Front und summieren sich zu einer Blamage für den gesamten Finanzplatz: Bloßgestellt ist neben Wirecard deren Prüfer EY, der im Zuge der von der EU verordneten Rotation des Testats zuletzt den deutschen Markt aufrollte und die Mandate von Deutscher Bank, Commerzbank, Munich Re, Helaba, KfW und W&W an Land zog. Unterdessen dürfte das befristete Leerverkaufsverbot der Finanzaufsicht im vergangenen Jahr aus der Perspektive angelsächsischer Anleger im Rückblick, wenngleich unberechtigt, wie der Versuch wirken, einen Schutzzaun ums vermeintliche Vorzeige-Fintech zu ziehen. Und weil die Aktien des Unternehmens mit Mitgliedschaft im Dax und dem Apparat eines Start-ups, obgleich Index-Leichtgewicht im Standardwerteindex, mit ihrer Achterbahnfahrt in den vergangenen Monaten nicht selten die Performance des Standardwerte-Barometers prägten, aber auch aus grundsätzlichen Gründen darf sich auch die Deutsche Börse Gedanken über die Indexkriterien machen. Was sagt es über Deutschlands Finanzsektor aus, wenn diese Gesellschaft dennoch mehr als doppelt so viel Börsenwert auf die Waage bringt wie die Commerzbank, die nach eigenen Angaben mehr als 30 % des deutschen Außenhandels finanziert? Dass der Aufstieg von Wirecard nur möglich war durch die Schwäche der Platzhirsche. Dass die Krise des deutschen Finanzsektors nicht nur Folge von Überbesetzung im Markt, einer widrigen Geldpolitik oder von Vorgaben von Aufsehern ist, sondern vor allem Ergebnis von Management-(In-)Aktivität. Mit den Worten der Schauspielerin Liza Minelli: Man muss durch schlechte Erfahrungen hindurchgehen und nicht drumherum.——Von Bernd NeubacherDie Exponenten des deutschen Finanzsektors begehen Fehler mit großer Hingabe. Das Problem: Es ist immerzu der gleiche Fehler.——