IM INTERVIEW: GUIDO BADER, DEUTSCHE AKTUARVEREINIGUNG

"Es bedarf weiterer Anstrengungen"

Lebensversicherer sollen Potenzial aus Kosten- und Risikoergebnissen heben - Kritik an EIOPA

"Es bedarf weiterer Anstrengungen"

Herr Bader, wie ernst ist die Lage der deutschen Lebensversicherer?Wir erleben im Moment tatsächlich eine extreme Niedrigzinsphase. Seit den Tiefstständen im August hat sich das Zinsniveau nur marginal erholt. Es gibt keine Entwarnung für die Branche. Die Lebensversicherer sind in einer angespannten Situation. Dennoch sehe ich derzeit nicht die Notwendigkeit, akute Warnungen herauszugeben. Die Lebensversicherungsbranche hat sich in den vergangenen Jahren solide aufgestellt und aus aktuarieller Sicht ihre Hausaufgaben gemacht. Die Unternehmen können der Niedrigzinsphase trotzen, aber es bedarf weiterer Anstrengungen. Wie sollen die aussehen?Die Lebensversicherer müssen weiterhin ihre Reserven stärken und Zinszusatzreserve aufbauen. Sie müssen die Ertragsquellen zur Finanzierung ihrer Garantien identifizieren und ausbauen. Das heißt, sie brauchen solide Kosten- und Risikoergebnisse und müssen auch in der Kapitalanlage versuchen, bei kalkulierbarem Risiko die notwendigen Erträge zu erwirtschaften. Das sagt sich so leicht. Gerade in der Kapitalanlage: Wo soll es denn herkommen?Was man branchenweit sieht, ist eine Suche nach Rendite. Dabei ist es ganz wichtig, in ausgeprägtem Maße Diversifikationseffekte zu nutzen, mit dem Ziel, ein bisschen mehr Ertrag bei gleicher Sicherheit zu generieren. Viele Versicherer legen längerfristig an. Auch das Angebot von Unternehmensanleihen mit längeren Laufzeiten ist größer geworden. Die Kunst besteht darin, bei der Suche nach Rendite keine übermäßigen Risiken einzugehen. Gerade eine stärkere Diversifikation kann die personellen Ressourcen kleinerer Lebensversicherer leicht überfordern.Kleinere Unternehmen müssen sich Unterstützung von spezialisierten Assetmanagern für bestimmte Assetklassen suchen. Das kostet natürlich ein bisschen Rendite. Da haben Größere mit eigenen starken Kapitalanlageabteilungen sicher ein paar Basispunkte Renditevorteil. Aber man muss schon extrem groß sein, um alle Assetklassen weltweit selbst zu beherrschen. Im Dezember haben die Aktuare die Senkung des Höchstrechnungszinses auf 0,5 % für Anfang 2021 empfohlen. Könnte aus Ihrer Sicht die Lage durch weitere regulatorische Maßnahmen entschärft werden?Es gab einige bilanzielle Maßnahmen wie die Änderung der Berechnung der Zinszusatzreserve, die den Unternehmen im Hier und Jetzt ihre Situation erleichtern. Das ändert jedoch nichts an den zu erfüllenden Garantien gegenüber den Kunden. Und dieser Aufgabe werden die Versicherungsunternehmen auch nachkommen. Weitere größere Erleichterungen für die HGB-Bilanz sehen wir seitens der Aktuarvereinigung momentan nicht. Sie führen die Kosten- und Risikogewinne als Ertragsquellen an. Gibt es eine Schätzung der Aktuare, wie viel Reserven dort noch schlummern?Branchenzahlen dazu haben wir als Berufsverband nicht. Aber mittlerweile dürften die Risikogewinne die größere Ertragsquelle sein und nicht mehr die Zinsergebnisse. Das sind schon bedeutsame Beträge, die dort zur Verfügung stehen – zumal die Unternehmen ja auch verstärkt Risikogeschäft zeichnen, wie zum Beispiel Berufsunfähigkeitsversicherungen oder das neue und ziemlich stark wachsende Geschäft der Grundfähigkeitsversicherung. Aber auch die klassische Risikolebensversicherung oder Erwerbsminderungsabsicherungen – damit können sich die Lebensversicherer breiter aufstellen. Was erwarten Sie für Reaktionen von den Lebensversicherern selbst auf das extreme Zinstief, zum Beispiel in Richtung Marktkonsolidierung?Im Bereich des Aufkaufs von Beständen dürfte es nach meiner persönlichen Meinung weiterhin Bewegung geben. Ich rechne zwar nicht mit einer großen Run-off-Welle in der Branche, aber mit dem Verkauf von Teilbeständen. Ich kann mir auch vorstellen, dass Versicherer, die ihren Schwerpunkt nicht im Lebensversicherungsgeschäft haben, die Sparte einstellen. Ein Run-off bringt in den ersten Jahren Kostengewinne, weil die Vertriebsfinanzierung wegfällt. Ich erwarte jedoch weder große, namhafte Run-offs noch größere Fusionen. Trotzdem ist es um die Run-off-Plattformen aktuell etwas ruhiger geworden. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund?Ich glaube, dass man in der Öffentlichkeit über angedachte Deals zunächst nicht viel erfährt, insbesondere wenn es um Teilbestände geht. Zudem müssen die Run-off-Plattformen ihre bisherigen Transaktionen auch erst einmal verdauen und verarbeiten. Ich denke nicht, dass das Geschäftsmodell Run-off jetzt in den Winterschlaf geht. Aber es ist in Deutschland nicht so ausgeprägt und präsent, wie man es aus dem angelsächsischen Bereich kennt. Daran wird sich auch nichts groß ändern. In diesem Jahr steht der erste große Review des seit 2016 geltenden Regelwerks Solvency II für die europäischen Versicherer an. Was erwarten Sie sich davon?Wir sehen die Vorschläge von EIOPA zur Zinsstrukturkurve äußerst kritisch – insbesondere, dass die Extrapolation erst zu einem späteren Zeitpunkt als nach 20 Jahren beginnen soll. Wir würden den Status quo, den sogenannten Last Liquid Point bei 20 Jahren, gerne beibehalten. Die für die Versicherer entscheidenden Bondmärkte sind derzeit jenseits der 20 Jahre nicht tief und liquide – teilweise noch nicht einmal mehr für kürzere Laufzeiten. EIOPA sollte bei ihren Vorschlägen darauf achten, worin die Versicherer auch wirklich anlegen, nämlich in Anleihen und Pfandbriefe und nicht in den Swapmärkten. Bei der Modellierung des Zinsänderungsrisikos ist EIOPA im Wesentlichen einem Vorschlag der Deutschen Aktuarvereinigung gefolgt, der eine aktuariell gebotene Verschärfung beinhaltet. In der heutigen Standardformel werden negative Zinsen nicht gestresst. Das muss vor dem Hintergrund der aktuellen Zinsentwicklungen geändert werden. Bei den Berichtspflichten würden wir uns deutlichere Vereinfachungen wünschen, zum Beispiel einen Wegfall der Berichtspflichten zum vierten Quartal, die nur wenige Wochen vor den Jahresreports erwartet werden. Insgesamt hoffen wir auf ein bisschen mehr Mut zum Ausdünnen der Berichtspflichten. Das Interview führte Antje Kullrich.