„Es braucht mehr Frauen als Vorbilder“
Antje Kullrich.
Frau Ebentheuer, Frau Tuchscherer, etwa jeder zweite Vorstand der 30 größten deutschen Versicherer ist noch rein männlich besetzt. Anders als in Branchen wie dem Maschinenbau ist der Anteil der weiblichen Beschäftigten in der Versicherungswirtschaft jedoch hoch. Selbst in der insgesamt männlich geprägten Führungslandschaft in Deutschland ist das ein außergewöhnlich großes Missverhältnis. Was läuft da falsch?
Ebentheuer: Die Versicherungswirtschaft ist keine junge Branche, die meisten Unternehmen haben eine Geschichte und Tradition, die sehr männlich geprägt sind. Mehr Frauen in Führungspositionen zu bekommen, bedeutet für sie ein sehr, sehr großes Change-Projekt. Der Wandel vollzieht sich nicht im Sprinttempo.
Es ist ein Marathon, den wir hier laufen, dabei ist viel Durchhaltevermögen und Ausdauer gefragt. Einige Versicherer sind sehr innovativ und haben sich ambitionierte Ziele gesetzt. Dort sieht man auch, dass sie größere Schritte nach vorn machen. Bei anderen dauert es länger.
Tuchscherer: Viele Männer in Vorständen konnten die konkrete Erfahrung einfach noch gar nicht machen, dass diverse Besetzungen sehr gut funktionieren. Sobald sich das ändert, werden wir einen neuen Schub in Richtung Diversität verzeichnen.
Was braucht es, damit ein Unternehmen diesen Change-Prozess eher anstößt und schneller bewältigt?
Ebentheuer: Das Wichtigste ist, sich dieses Ziel auch wirklich zu setzen und es nicht nur in Powerpoint-Präsentationen zu schreiben. Man(n) muss es wollen. Unternehmen müssen verstehen, dass am Ende die Leistung zählt und es sich für sie lohnt, wenn sie beide Geschlechter gleichermaßen fördern. Sie verzichten sonst auf die Hälfte des Leistungspotenzials. Wenn alle das wirklich wollen – sowohl die Männer als auch die Frauen in Vorständen und Aufsichtsräten –, dann sind die Rahmenbedingungen für den Wandel vorhanden.
Haben Sie auch ein konkretes Beispiel für das von Ihnen angesprochene „Wollen“?
Ebentheuer: Als wir einen Vorstandsposten besetzen wollten, wurden uns in der ersten Runde vom Headhunter ausschließlich Männer vorgeschlagen. Wir mussten aktiv danach fragen, dass wir auch eine Frau vorgeschlagen bekamen. Frauen sind nach meiner Erfahrung deutlich schwerer zu finden. Sie präsentieren sich weniger. Sie müssen Frauen finden, die mutig sind und zum richtigen Zeitpunkt auch in eine neue Führungsrolle springen. Dass am Ende nach Leistung entschieden wird, ist klar.
Was ist noch nötig, damit auf Führungsebenen Geschlechterparität verwirklicht werden kann?
Ebentheuer: Vorbilder sind enorm wichtig. Nur an entsprechenden Beispielen können Frauen im Unternehmen und von außen erkennen, dass es möglich ist, in einem Unternehmen Karriere zu machen. Die ADAC Versicherung hatte schon in den 90er Jahren eine Frau im Vorstand. Damit wussten wir Frauen, die damals wie ich erst am Anfang unserer Karriere standen: Es ist möglich. Dieses Signal haben Vorstand und Aufsichtsrat auch immer ausgesendet: Wenn die Leistung stimmt, ist alles möglich.
Frau Tuchscherer, Sie kommen von außen und haben auch Erfahrungen in anderen Versicherungsunternehmen gesammelt. Was ist beim ADAC anders?
Tuchscherer: Ich erlebe im ADAC eine sehr fördernde Kultur, nicht nur im Hinblick auf Frauenförderung, sondern generell. Zum Beispiel bei Themen, die viele Versicherer zwar in ihre Nachhaltigkeitsberichte schreiben, sie aber nicht wirklich leben: 48% Frauenanteil in Führungspositionen, Führen in Teilzeit zu ermöglichen, Homeoffice für Führungskräfte auch ohne Pandemie, Elternzeit für Männer – und zwar mehr als acht Wochen. Männer wie Frauen werden gleichermaßen als Familienmitglieder wahrgenommen. Es wird beachtet, dass sie auch Kinder haben. Der Vertrieb zum Beispiel ist in vielen Versicherungen immer noch sehr männerlastig. Dort als Mann Teilzeit zu arbeiten oder in mehrmonatige Elternzeit zu gehen, ist ungewöhnlich und muss in vielen Unternehmen immer noch hart erkämpft werden. Das erlebe ich im ADAC deutlich anders.
Welches Konzept der Frauenförderung steht hinter dieser Kultur?
Ebentheuer: Wir nehmen bei uns im Hause die Personalentwicklung sehr, sehr ernst. Wir fördern Frauen und Männer gleichermaßen. Insofern ist das, was wir machen, keine einseitige Frauenförderung. Wir haben uns im Vorstand zu Vielfalt und Nachhaltigkeit verpflichtet. Wir versuchen, Frauen wie Männern den nötigen Freiraum für ihre Entwicklung zu geben. Dazu gehören auch flexible Arbeitszeitmodelle. Es ist für uns auch kein Kulturbruch, wenn Männer in Elternzeit gehen, sondern es ist für uns ganz normal. Bei uns wird im Laufe des Jahres 2021 ein Frauennetzwerk übergreifend im gesamten ADAC aufgebaut. Das haben die Kolleginnen selbst initiiert, der Vorstand hat es nicht vorgegeben, nur unterstützt. Die Frauen wollen sichtbarer werden, sich austauschen und sich weiterentwickeln. Ich finde es großartig, dass wir mittlerweile so eine Kultur im Hause haben, dass sich solche Dinge von selbst entwickeln und nicht immer von oben angestoßen werden müssen.
Wie wichtig ist der Druck von außen bei der Chancengleichheit? Zum Beispiel von externen Shareholdern? Die börsennotierten Aktiengesellschaften sind deutlich diverser aufgestellt als zum Beispiel Versicherungsvereine.
Ebentheuer: Der Druck von außen hilft an vielen Stellen. Eine Entwicklung hin zu mehr Chancengleichheit lässt sich aber nicht oktroyieren. Wir sind bei den ADAC Versicherungen ein gutes Beispiel dafür, dass es dann in die richtige Richtung läuft, wenn der Druck von außen auf Offenheit und ein konsequentes Mindset im Management trifft.
Wie verändert eine paritätisch besetzte Führungsspitze ein Unternehmen?
Tuchscherer: Ich war in meiner Karriere meist die einzige Frau in einer Männerführungsriege. Das war okay. Doch eine Kultur verändert sich nach meiner Erfahrung erst grundlegend, wenn es mehr Frauen als eine sind. Schon die zweite Frau macht einen großen Unterschied.
Können Sie ein Beispiel für einen solchen Unterschied nennen?
Tuchscherer: Gleichmäßige Förderung des jeweils Besten – egal ob Frauen oder Männer – sorgt für eine Leistungsexzellenz.
Die Qualität, nicht die Quantität steht im Vordergrund. Es ist nicht entscheidend, ob man morgens um 7 Uhr schon im Büro sitzt und auch um 22 Uhr noch da ist, sondern es ist entscheidend, was man in der regulären Arbeitszeit erreicht. Da erlebe ich das paritätisch besetzte Vorstandsgremium als förderlich.
Reicht Ihnen die jetzt geplante Frauenquote für börsennotierte Unternehmensvorstände? Was würden Sie sich von der Politik wünschen?
Tuchscherer: Ich war lange Jahre ambivalent, was eine Frauenquote angeht. Inzwischen bin ich Fan der Quote, um nämlich diesen schon angesprochenen Freiraum zu schaffen, dass eben doch noch mal explizit nach einer Frau gesucht wird. Es ist auch ein Incentive für die Frauen. Denn die Frauen müssen auch ein Stück weit hungrig und mutig sein. Unsere Vorstandspositionen sind risikobehaftet, unbefristete Verträge gibt es nicht. Es braucht auch mehr Frauen als Vorbilder. Vielen Frauen auf der mittleren Führungsebene fehlen Frauen als Vorbilder in Vorständen.
Ebentheuer: Ich finde, es ist ein guter Anfang. Ich habe schon gesagt, es ist ein Marathon, kein Sprint. Es ist wichtiger, alle mitzunehmen und die Weiterentwicklungen gemeinsam zu tragen, als zu schnell zu sein und viele zu verlieren. Insofern freue ich mich auf den ersten, richtigen Schritt. Von der Politik wünsche ich mir, dass die Wirkung nachverfolgt wird. Hat dieses Gesetz entsprechend den verfolgten Zielen eine Wirkung gezeigt? Und wenn es dazu nicht reicht, muss nachgebessert werden.
Das Interview führte