InterviewEdward Ler

„Es gibt Risiken, die wir noch gar nicht messen können“

Chief Underwriting Officer Ler spricht über die Wachstumsziele von Ergo, neue Risikolandschaften und warum Sicherheit mehr braucht als eine gute Versicherung.

„Es gibt Risiken, die wir noch gar nicht messen können“

Im Interview: Edward Ler

„Es gibt Risiken, die wir noch gar nicht messen können“

Der Vorstand des Versicherungskonzerns Ergo äußert sich zu Risiken, deren Versicherbarkeit und Maßnahmen zur Resilienz einer Gesellschaft

Ergo, die Direktversicherungstochter der Munich Re, peilt ein umfangreiches Wachstum an. Dabei ist die Risikobewertung eine stetige Herausforderung. Mit Edward Ler wurde vor eineinhalb Jahren ein Manager mit Erfahrung in Asien und im nordamerikanischen Markt in den Vorstand geholt. Er äußert sich zu den Expansionsplänen und der wachsenden Komplexität, Risiken einzuschätzen, und was Versicherungen über das Versichern hinaus tun können, um Schäden aus Risiken zu minimieren.

Herr Ler, Sie sind ein Risikospezialist mit jahrzehntelanger Erfahrung bei verschiedenen Versicherern auf drei Kontinenten. Was waren Ihre ersten Aufgaben, als Sie vor etwa 18 Monaten bei Ergo angefangen haben?

Als Chief Underwriting Officer der Gruppe gehört es zu meinen Aufgaben, die globale Strategie für unser Versicherungsportfolio und unseren Umgang mit Risiken zu definieren und eng im Auge zu behalten. Was wir in unseren verschiedenen Segmenten tun – in der Lebensversicherung, in der Krankenversicherung und in der Schaden-/Unfallversicherung. Das ist der grundlegende Bestandteil meiner Arbeit.

Sie sollen auch das Unternehmenswachstum vorantreiben. Wo investieren Sie, wo möchte Ergo wachsen?

Natürlich wollen wir in unserem Heimatmarkt Deutschland über alle Segmente hinweg, also Leben, Gesundheit und Schaden/Unfall, auf unserem bisherigen Erfolg aufbauen. Wir möchten dabei unsere Markenpräsenz weiter stärken und sowohl Privat- als auch Gewerbekunden maßgeschneiderte Versicherungslösungen anbieten. Darüber hinaus haben wir eine Reihe von Kernmärkten in Europa sowie Wachstumsmärkte in Asien definiert, in denen wir unsere Position weiter ausbauen und uns dort, wo dies noch nicht der Fall ist, unter den führenden Versicherern etablieren wollen.

Wie definieren Sie „führend“?

Wir peilen in jedem Markt, in dem wir präsent sind, an, mindestens zu den Top-Fünf-Versicherern zu gehören. Das ist unsere Ambition, unser Anspruch. Und wir haben in den vergangenen Jahren in vielen Märkten deutliche Fortschritte gemacht. Ein Beispiel ist Thailand. Dort sind wir organisch gewachsen und haben mehrere Übernahmen getätigt – auch schon vor meiner Zeit bei Ergo. Inzwischen gehören wir zu den Top-10-Sachversicherern im größten Markt Südostasiens.

Wir peilen in jedem Markt, in dem wir präsent sind, an, mindestens zu den Top-Fünf-Versicherern zu gehören.

Investieren Sie auch in neue Märkte in Europa?

Wir investieren in Europa – sowohl organisch als auch durch Zukäufe. 2024 haben wir beispielsweise die Anteile von Storebrand ASA an unserem norwegischen Krankenversicherungs-Joint-Venture Storebrand Helseforsikring AS übernommen und sind nun Alleineigentümer. Außerdem haben wir vergangenen Sommer eine Vereinbarung mit Gjensidige Forsikring ASA unterzeichnet, um deren litauischen Sach- und Krankenversicherer ADB Gjensidige, einschließlich der Niederlassungen in Estland und Lettland, zu übernehmen. Diese Übernahmen werden uns helfen, unsere Präsenz und Wettbewerbsfähigkeit sowohl in Skandinavien als auch im Baltikum weiter auszubauen.

Baltikum? Das scheint derzeit eher eine Hochrisikoregion zu sein. Russland ist direkter Nachbar. Sehen Sie darin ein Risiko?

Gute Beobachtung. Wir verfügen über eine sehr starke Governance, wenn es um die Risikobewertung unserer Geschäfte geht. Diese Einschätzungen erarbeiten wir in unseren Risikokomitees auf Basis gründlicher Analysen und Bewertungen – und Risiken wie geopolitische Unsicherheiten fließen dabei selbstverständlich mit ein. Bei Bedarf passen wir unsere Strategien entsprechend an und ergreifen geeignete Maßnahmen.

Die Internationalisierung bringt auch andere Herausforderungen mit sich. Die Regulierung von Versicherungen unterscheidet sich etwa von Land zu Land. Was bedeutet das für Ihre Expansionspläne?

Versicherungsprodukte sind nach meiner Auffassung nicht so homogen wie viele Bankprodukte. Kreditkarten funktionieren weltweit mehr oder weniger gleich. Versicherungen hingegen sind oft landesspezifisch reguliert, da sich jedes Land auch anders entwickelt. Nehmen wir zum Beispiel Indonesien. Dort liegt die Versicherungsdurchdringung – das Verhältnis von Versicherungsprämien zum Bruttoinlandsprodukt – bei etwa 0,5%. Und die durchschnittlichen jährlichen Ausgaben für Versicherungsprodukte pro Person liegen bei unter 200 US-Dollar. Vergleichen Sie das mit Deutschland, wo wir vermutlich vierstellige Beträge jährlich zahlen. Hierzulande sind sich die Menschen des Themas „Versicherungen“ bewusst – wir wissen, wie man sie vergleicht, wir kennen ihren Mehrwert.

Auch das Sicherheitsbedürfnis variiert je nach Region, oder?

Ja. Die Einstellung zur Lebensversicherung ist zum Beispiel unterschiedlich. In Asien übernehmen Menschen in der Regel eine sehr hohe Eigenverantwortung für ihre Lebensplanung. Der Staat ist beteiligt, aber nicht so umfangreich. Daher ist eine Lebensversicherung in Asien eine sehr persönliche Entscheidung: Wie finanziere ich etwa die Ausbildung meiner Kinder? Die Menschen wollen ihre Kinder auf gute Schulen schicken. Gleiches gilt für die Altersvorsorge und die Vermögensplanung. In Deutschland, so nehme ich es jedenfalls wahr, kümmern sich vor allem Menschen mit entsprechenden Ansprüchen an ihren Lebensstandard auch privat um diese Fragen.

Wird die Lebensversicherung nicht auch durch günstigere und flexiblere Sparformen bedroht? Auch wegen der Beschränkungen für Versicherer durch Solvency II?

Das sehe ich in unserem Geschäft nicht. Mit unserem Risikoträger Ergo Vorsorge Lebensversicherung AG bauen wir beispielsweise unser Lebensversicherungsgeschäft in Deutschland kontinuierlich aus. Wir sind davon überzeugt, dass wir mit ausgewählten Produkten, die gut zu unserem Geschäftsmodell passen und langfristig Wert schaffen, weiter wachsen können. Gleichzeitig wollen wir unseren Kunden gute Produkte mit passendem, maßgeschneidertem Schutz anbieten.

Im Zentrum jedes Versicherungsgeschäfts steht die Risikobewertung. Die Anzahl der Risiken hat stetig zugenommen und man kann nicht einfach aus der Vergangenheit extrapolieren, denke ich. Wie messen Sie künftige Risiken?

Extrapolation ist meines Erachtens nicht für jede Produktkategorie der richtige Weg, weil viele Risikoannahmen eine Rolle spielen. In manchen Produktkategorien müssen wir etwa die Zinsentwicklung einbeziehen – das erfordert Prognosen. Unsere Risikomodelle müssen dabei sehr schnell angepasst werden. In Griechenland haben wir zum Beispiel eine detaillierte Karte zur Waldbrandgefährdung erstellt – die geht ins Detail bis auf Ebene einzelner Ortschaften. Das hilft auch bei der Prävention, einem weiteren entscheidenden Pfeiler für das Risikomanagement auf globaler Ebene. Die Karte haben wir gemeinsam mit unserer Muttergesellschaft Munich Re entwickelt, basierend auf ähnlichen Karten aus Kalifornien und Australien.

Extrapolation ist meines Erachtens nicht für jede Produktkategorie der richtige Weg, weil viele Risikoannahmen eine Rolle spielen.

Risiko-Bewusstsein ist aber ein Problem. Manche Risiken kosten viel, werden aber gar nicht wahrgenommen …

Ein Grund ist, dass Regierungen und Gesellschaften unterschiedlich mit Risiken umgehen. Die japanische Regierung hat ihre Bevölkerung kürzlich auf ein erhöhtes Erdbebenrisiko hingewiesen und die nötigen Investitionen vorgestellt, um dem entgegenzutreten. Singapur hat seine Bürger dafür sensibilisiert, dass in den nächsten 100 Jahren Milliarden investiert werden müssen, um sich auf die steigenden Meeresspiegel vorzubereiten. In Deutschland scheint es jedoch genau andersherum zu sein. Die Diskussion um eine Pflichtversicherung für Elementarschäden ist ein typisches Beispiel. Wir sollten nicht nur diskutieren, ob wir sie brauchen, sondern auch, wie wir Vorsorge treffen, damit Versicherungslösungen langfristig tragfähig bleiben. Warum schaffen wir keine Anreize für  Menschen, aus hochwassergefährdeten Gebieten wegzuziehen, und renaturieren Flüsse wieder etwas mehr, damit solche Ereignisse seltener vorkommen? Mit solchen Fragen müssen sich die Regierungen dringend befassen. Versicherungsprämien zu zahlen reicht nicht aus.

Wirklich nicht?

Niemals – denn Versicherungsprodukte allein können keinen Schaden verhindern. Außerdem gibt es einfach nicht genug Ressourcen, also Menschen und Materialien, um Schäden adäquat zu beheben. Das würde ewig dauern, besonders da Naturkatastrophen in Häufigkeit und Intensität zunehmen. Ökonomische Schäden kommen noch hinzu. Deshalb muss alles zusammenspielen: Bewusstsein, Prävention, Klimaanpassung und Versicherung.

Haben Versicherer eine größere Rolle dabei, Regierungen zu helfen, Risiken besser zu verstehen und staatliche Mittel gezielter einzusetzen?

Versicherer können viel beitragen – mit Daten, Erkenntnissen sowie Maßnahmen zur Risikoprävention und -minderung.

Wie genau?

Wir können zum Beispiel das Hochwasserrisiko für nahezu jedes Haus in Deutschland berechnen. Wir sind offen für die Zusammenarbeit mit allen relevanten Akteuren, um das Bewusstsein und Verständnis für die Risiken zu erhöhen. Das Risikoparadigma ändert sich schnell – und auch wir müssen uns schnell anpassen.

Wir können zum Beispiel das Hochwasserrisiko für nahezu jedes Haus in Deutschland berechnen.

Menschen vergessen Risiken schnell, auch wenn sie sie selbst erlebt haben?

Wir nennen das die „Flut-Demenz“. Unmittelbar nach dem Ahrtal-Hochwasser 2021 gab es einen starken Anstieg bei Elementarschadenversicherungen – aber Menschen vergessen schnell. Deshalb sehe ich es als Teil meiner Aufgabe, auf bestimmte Risiken aufmerksam zu machen. Wenn ich als Versicherungsmanager etwas sage, das der „durchschnittliche Verbraucher“ nachvollziehen kann, habe ich meinen Job gemacht. Ich kann nicht nur über Bilanzen reden – das interessiert niemanden. Ich muss für unsere Kunden nahbar sein.

In manchen Ländern mit hohen Schäden durch Naturkatastrophen ist die Versicherungsquote sehr niedrig. Welche anderen Absicherungen gibt es?

Die Menschen verlieren dort alles. Das ist eines der Dilemmata des Risikoparadigmas in der Gesellschaft. Es gibt kein gutes Gleichgewicht zwischen Gefährdung und gesellschaftlicher Resilienz. So kommt es zu starken Gegensätzen: Japan ist zum Beispiel sehr gut versichert, Indonesien steht am anderen Ende des Spektrums.

Ein großes, schwer messbares Risiko ist Cyberkriminalität. Welche Entwicklungen sehen Sie?

Was passiert, wenn reine KI-Modelle zum Einsatz kommen – kennen wir deren Risiken genauso gut wie menschliche?

Die Cyberversicherung gewinnt stark an Bedeutung, weil der Bedarf exponentiell wächst. Es gibt Risiken, die wir noch gar nicht messen können. Wie quantifizieren wir etwa potenziell katastrophale Auswirkungen von KI-Risiken? Das wird bald hochrelevant. Wie verändert KI das Risikoprofil einer Software? Bei aller Digitalisierung von Geschäftsprozessen wissen wir, dass aktuell noch ein Mensch die letzte Kontrolle hat. Doch was passiert, wenn reine KI-Modelle zum Einsatz kommen – kennen wir deren Risiken genauso gut wie menschliche?

Bedeutet das, dass KI aus Ihrer Sicht nicht versicherbar wird?

Mehrere Großereignisse könnten eine finanzielle Überlastung darstellen. Das Risikoparadigma verändert sich. Ich bin der Meinung, dass Prämien für Cyberversicherungen risikobasiert sein müssen. Es reicht nicht, rückblickend zu sagen: „Vor 10 Jahren gab es keine Cyberschäden“ und das als Berechnungsgrundlage zu nehmen.

Sehen Sie, dass andere Unternehmen zu viele Cyberrisiken eingehen?

Ich möchte keine anderen Versicherer in Frage stellen. Aber alle Anbieter von Cyberversicherungen müssen ihre risikobasierten Bewertungsmethoden verbessern. Glücklicherweise ist Munich Re ein sehr starker Rückversicherer in diesem Bereich. Die private Versicherungsbranche hat eine begrenzte Kapitalbasis. Wir werden daher keine systemischen Risiken eingehen, die unsere Bilanz gefährden.

Wir werden keine systemischen Risiken eingehen, die unsere Bilanz gefährden.

Und ein großes Risiko bleibt der Mensch, oder?

Auf jeden Fall – nicht nur bei Cyberkriminalität. Man sieht das oft auch bei schlechter Unternehmensführung. Solches Verhalten verfolgt immer ein Ziel: persönliches Risiko zu minimieren – auf Kosten des Unternehmensrisikos.

Schlechte Unternehmensführung (...) verfolgt immer ein Ziel: persönliches Risiko zu minimieren – auf Kosten des Unternehmensrisikos.

KI bietet aber nicht nur Risiken, sondern auch Chancen. Wie nutzen Sie KI bei Ergo?

Ein Beispiel: Wegen der aktuellen geopolitischen Lage gibt es derzeit viele Sanktionen. Unsere Compliance-Teams hätte zwei Wochen gebraucht, um alle unsere Policen und Verträge allein in Deutschland zu prüfen. Jetzt sprechen wir von Stunden. Das ist ein direkter Produktivitätsgewinn. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. In der gesamten Wertschöpfungskette – von der Produktentwicklung über das Underwriting bis zur Schadenbearbeitung – kann KI uns helfen, Prozesse zu optimieren. Alles hat also zwei Seiten: Risiko und Nutzen – und die müssen wir sorgfältig abwägen.

Das Interview führte Sebastian Schmid

Das Interview führte Sebastian Schmid.