Euronext bekommt Zuschlag in Mailand
Durch die Übernahme der Borsa Italiana wird Euronext auf einen Schlag erheblich größer. Gleichzeitig kann sich der paneuropäische Börsenbetreiber breiter aufstellen, den Bereich Fixed Income und den Nachhandelsbereich ausbauen. Allerdings muss er dafür tiefer als ursprünglich geplant in die Tasche greifen.bl/hip/wü Mailand/London/Paris – Euronext hat im Bieterwettkampf um die Mailänder Börse wie erwartet den Zuschlag bekommen. Die London Stock Exchange (LSE) verkauft den italienischen Marktbetreiber vorbehaltlich der Zustimmung der europäischen Wettbewerbshüter für 4,325 Mrd. Euro an die Mehrländerbörse. Zusätzlich will Euronext eine weitere Summe zahlen, die den bis zum Abschluss der Übernahme erwirtschafteten Cash-flow widerspiegeln soll. Das Unternehmen, das für das Angebot ein Bieterkonsortium mit der staatlichen Cassa Depositi e Prestiti (CDP) und der Großbank Intesa Sanpaolo eingegangen ist, will die Akquisition komplett bar zahlen. Davon sollen 2,4 Mrd. Euro aus einer Kapitalerhöhung kommen, 1,8 Mrd. Euro aus neuen Schulden.Durch den Preis wird die Borsa Italiana, die im vergangenen Jahr auf einen Umsatz von 464 Mill. Euro und ein Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) von 264 Mill. Euro gekommen ist, mit dem 16,7-Fachen des Ebitda vor Synergien bewertet, während der Durchschnittspreis für Marktinfrastrukturen jüngst dem 15,5-Fachen entsprochen hat, wie Jefferies ermittelt hat. Allerdings stehen Assets wie die Borsa Italiana auch nicht jeden Tag zum Verkauf. Zudem hatten auch die Deutsche Börse und Six Angebote gemacht. Gegenüber dem Schweizer Börsenbetreiber hatte Euronext erst im Frühjahr im Gerangel um die Börse von Madrid den Kürzeren gezogen.Der Betreiber der Börsen in Amsterdam, Brüssel, Dublin, Lissabon, Oslo und Paris ist aber vor allem deshalb bereit, für die Mailänder Börse tief in die Tasche zu greifen, weil er dadurch auf einen Schlag deutlich größer wird, seine Diversifizierung erheblich vorantreiben und seine nachbörslichen Aktivitäten stärken kann. “Mit dieser Transaktion erfüllt Euronext die Erwartungen hinsichtlich ihres Ziels, die führende paneuropäische Marktinfrastruktur aufzubauen”, erklärte Euronext. Die Übernahme, die der Börsenbetreiber im ersten Halbjahr 2021 abschließen will, sei ein entscheidender Schritt bei der Umsetzung des Strategieplans, so CEO Stéphane Boujnah. Bislang größte ÜbernahmeFür Euronext ist die Borsa Italiana mit ihren 367 notierten Unternehmen, davon 218 im Small-Cap-Segment AIM, die bisher größte Einzelplattform, die sie übernimmt. Durch die Akquisition entsteht den Angaben nach die Nummer 1 in Europa für Börsennotierungen mit mehr als 1 800 gelisteten Unternehmen mit einer Gesamtmarktkapitalisierung von 4,4 Bill. Euro. Für Sekundärmärkte wird die neue Gruppe, zu deren Erlösen die Mailänder Börse künftig rund 34 % beisteuern wird, mit täglich gehandelten Wertpapieren im Wert von etwa 11,7 Mrd. Euro ebenfalls die Nummer 1, genau wie für Beteiligungsfinanzierungen. So wurden an der Euronext und der Borsa Italiana 2019 mehr als 42 Mrd. Euro von Investoren zur Finanzierung von Unternehmen eingesammelt. Die kombinierten Erlöse beider Börsenbetreiber betrugen in den zwölf Monaten bis Ende Juni 1,4 Mrd. Euro, das Ebitda lag bei 795 Mill. Euro.Durch die Übernahme, die von den Euronext-Aktionären auf einer außerordentlichen Hauptversammlung am 20. November abgesegnet werden soll, kann sich die bisher im Gegensatz zur Deutschen Börse noch relativ wenig im Geschäft außerhalb der Aktienmärkte vertretene Mehrländerbörse erheblich diversifizieren und den Bereich Fixed Income mit der Anleihenhandelsplattform MTS sowie das Clearing mit der Cassa di Compensazione e Garanzia ausbauen. Der Zentralverwahrer Monte Titoli passt ebenfalls gut zu der Strategie von Euronext, ein föderales System europäischer Zentralverwahrer aufzubauen. Der Börsenbetreiber hat erst kürzlich VP aus Dänemark übernommen. Durch Monte Titoli wird sich das verwahrte Vermögen von 2,2 Bill. Euro auf 5,6 Bill. Euro mehr als verdoppeln. Euronext erwartet Vorsteuer-Kostensynergien von 45 Mill. Euro, was rund 20 % der Kostenbasis von Borsa Italiana entsprechen würde.Da die italienische Regierung von Anfang an die Offerte des Euronext-Konsortiums unterstützte, hatten die Deutsche Börse und die Schweizer Six damit nie eine greifbare Chance, meinen Beobachter. Dafür erhalten die Italiener jetzt zwei Sitze im zehnköpfigen Verwaltungsrat, darunter den Posten des Chairman. Auch die CDP, die eine Beteiligung von 7,3 % an Euronext erwirbt, bekommt einen Sitz im Verwaltungsrat. Allerdings hat der niederländische Finanzminister ein Mitspracherecht bei der Ernennung von Verwaltungsratsmitgliedern. Das könnte angesichts der angespannten Beziehungen zwischen beiden Ländern wegen des Streits um die europäischen Coronahilfen zu einem Problem werden. Mit Borsa-Italiana-Chef Raffaele Jerusalmi und dem Chef der Anleiheplattform MTS ziehen zudem zwei Italiener in den Management Board ein. Mehrere Geschäftseinheiten und zentrale Funktionen sollen in Mailand angesiedelt sein, wo Euronext künftig auch gelistet sein soll.Die Londoner Börse hofft, dass der Deal den Weg für die 27 Mrd. Dollar schwere Fusion mit dem Finanzdatenanbieter Refinitiv frei macht. Nach dem Platzen der Übernahme durch die Deutsche Börse wurde wiederholt spekuliert, dass entweder die CME Group, der die Chicago Mercantile Exchange gehört, oder die Intercontinental Exchange (ICE) eine Offerte für die Londoner Börse oder Teile ihres Geschäfts vorlegen wird. Der Zusammenschluss mit Refinitiv soll einen Finanzmarktinfrastrukturbetreiber hervorbringen, der sich mit den beiden großen US-Börsen auf Augenhöhe unterhalten kann. “Wichtiger Meilenstein””Wir glauben, dass der Verkauf von Borsa Italiana wesentlich dazu beitragen wird, die Wettbewerbsbedenken der EU beizulegen”, sagte Chief Executive David Schwimmer. Er freue sich, diesen “wichtigen Meilenstein” erreicht zu haben. Zu den Bedenken gehörte, dass Tradeweb (Refinitiv) und die elektronische Anleihenhandelsplattform MTS (Borsa Italiana) zusammen über erhebliche Macht auf dem Sekundärmarkt für EU-Staatsanleihen verfügen würden. Nach Schätzung der UBS kämen sie auf einen Marktanteil von 46 %. An MTS war bereits die Übernahme der LSE durch die Deutsche Börse gescheitert.Die Gruppe spielte Schwimmer zufolge eine wichtige Rolle in der Geschichte des Londoner Marktinfrastrukturbetreibers. Die erzielte Bewertung sei “attraktiv”. Die LSE komme durch den Verkauf ihrem Ziel näher, die Nettoverschuldung “innerhalb eines wünschenswerten Zeitrahmens” auf das 1,0- bis 2,0-fache bereinigte Ebitda zu drücken. Schwimmer erwartet, den Refinitiv-Deal noch im laufenden Jahr oder Anfang 2021 abschließen zu können – noch vor dem Verkauf des Mailänder Börsenbetreibers.Für den City-Veteran David Buik, der lange für Panmure Gordon den Markt beobachtet hat, war der Kauf von Borsa Italiana 2007 “die einzig positive Initiative” von Clara Furse in ihrer Zeit an der Spitze der LSE. Sie habe damit allerdings “weder die Welt nach London gebracht noch London in die Welt”, sagt Buik. Es ging damals vor allem darum, dass der Londoner Börsenbetreiber durch den zusätzlichen Ballast für feindliche Käufer schwerer zu schlucken sein würde. Die Nasdaq stand vor der Tür. Furse bezahlte 1,6 Mrd. Euro für Borsa Italiana. Der nun erzielte Verkaufspreis ist deshalb für Buik “okay”. Die Trennung sei unvermeidlich gewesen. “Die Synergien sind nicht da, wenn man ehrlich ist, mit dem Brexit noch viel weniger, egal ob es noch zu einem Deal kommt oder nicht.” Mittlerweile gehe es für die LSE ebenso sehr um Daten wie darum, eine Top-Börse zu sein. Doch nicht alle sehen den Verkauf des Mailänder Börsenbetreibers so positiv. “Tafelsilber versetzt””Die LSE könnte es noch bereuen, wegen einer kurzfristigen Obsession für das Datengeschäft einen Teil ihres Tafelsilbers versetzt zu haben”, sagt Patrick Young, der Herausgeber von “Exchange Invest”. Angesichts der komplexen Verhältnisse in der “unreformierten” Refinitiv und der Schwächen bei der Integration von Zukäufen könnte sich die angestrebte Neuausrichtung als Illusion erweisen. Zudem handele es sich bei den Daten von Refinitiv oft um Daten Dritter. Das Unternehmen trete in diesen Fällen also lediglich als Weiterverkäufer auf. Andererseits verliere die LSE durch den Verkauf von Borsa Italiana auch die dort anfallenden Handelsdaten.Auch den erzielten Preis sieht Young kritisch: “Weil sie von einer wegen des Brexit verärgerten EU zum Verkauf gezwungen wurde, hat die LSE Borsa Italiana unter Marktwert abgegeben.” Er sei zwar deutlich höher als die 3,5 Mrd. Euro, die Euronext dem Vernehmen nach ursprünglich geboten habe, doch wäre in einer weiteren Bieterrunde mit allen Interessenten mehr möglich gewesen.