IM INTERVIEW: PHIL DRURY, CITIGROUP

"Europa befindet sich im Zentrum der Aufmerksamkeit"

Der Chef des Investment Banking der US-Großbank in der EMEA-Region über die Pandemie, Fluggesellschaften, Übernahmen und den Brexit

"Europa befindet sich im Zentrum der Aufmerksamkeit"

Phil Drury sieht die Pandemie als Chance für Europa, näher zusammenzurücken. Es befinde sich in einer starken Position, sagt der Head of Banking, Capital Markets & Advisory der Citigroup für die EMEA-Region. Die USA bräuchten Europa als Gegengewicht zu China. Für die Volksrepublik sei Europa ebenfalls wichtig. Europäische Unternehmen könnten davon nur profitieren. Herr Drury, wo stehen wir in der aktuellen Krise?Die Lektionen, die aus der Finanzkrise gelernt wurden, haben dazu beigetragen, dass aus der Pandemie keine weitere weltweite Finanzkrise hervorgegangen ist. Wir haben keine Vorhersehbarkeit oder Klarheit, was das Ende von Covid-19 angeht, aber es gibt ein gewisses Maß an rationalem Verhalten, was ich ermutigend finde. Ich hoffe, dass sich dieses rationale Verhalten fortsetzt. Was meinen Sie damit?Am Anfang der Pandemie hat der Markt für Commercial Papers etwa zwei Wochen lang nicht effizient gearbeitet. In diesen zwei Wochen haben viele Unternehmen ihre Kreditlinien komplett gezogen oder um neue Fazilitäten gebeten. Das war eine Zeit, in der wir auf die Bedürfnisse unserer Kunden reagieren mussten, aber nicht auf alle Bedürftigen eingehen konnten. Und es wurde klar, dass das eine langfristige Sache sein könnte und dass wir dauerhaft überlebensfähig bleiben müssen. Was dann passierte, war, dass die Regierungen schnell reagierten. War das effizient?Die Regierungen haben nicht unbedingt zusammengearbeitet, wurden aber jede für sich sehr schnell aktiv. In der Finanzkrise war das anders. Die Regierungen haben in wesentlichem Umfang Liquidität vorgehalten. Das gab den Anleihemärkten Zuversicht. Wenn wir Geld verliehen haben, konnten Unternehmen es zurückzahlen, weil sie Bonds begeben konnten. Und wir konnten unser Geld erneut verleihen. Wir konnten also wirklich sehen, dass Kapital recycelt wird. Für die Wirtschaft insgesamt ist das eine gesunde Entwicklung. Gab es gemeinsames Handeln?Die Absicht stimmte im Großen und Ganzen überein. Die Vereinigten Staaten handeln in der Regel zuerst, weil die Entscheidungsfindung in zentralisierter Form viel leichter fällt als in der stärker fragmentierten Europäischen Union. Das haben wir bereits in der Finanzkrise gesehen. Die Tiefe der Anleihemärkte war sehr schnell wieder da. Der US-Bondmarkt sprang vor dem europäischen wieder an. Das Volumen der am Aktienmarkt eingesammelten Gelder erreichte in den USA Rekordniveau, gefolgt von Großbritannien. Warum sind Aktienemissionen in den USA beliebter?Es ist eine andere Kultur. In den USA haben Kapitalerhöhungen keinen negativen Beigeschmack. In Europa sieht man sie bei der Mittelbeschaffung nicht als erste Wahl, eher als letzte Option. Es gab einen Unterschied bei der Reaktionszeit der Unternehmen. Was die staatliche Ebene angeht, hat es eine Weile gedauert, bis Europa in einer gemeinschaftlicheren Weise handeln konnte. Das war in der Vergangenheit schon so. The Hut Group war ein großer Börsengang in London in diesem Jahr.Das war großartig. Ich kenne den Gründer/CEO sehr gut. Manche Geschäftsmodelle wurden durch Covid-19 vorangetrieben. Für viele Segmente der Technologiebranche, der Pharma- und Biotechbranchen und für ESG ist die Pandemie ein beschleunigender Faktor. Andere Branchen wie Luftfahrt, Gastronomie und der physische Einzelhandel leiden zunehmend darunter. Was bedeutet das für das Aktiengeschäft?Am Aktienmarkt befinden wir uns in einer interessanten Phase. Einerseits wird, vor allem durch Initial Public Offerings (IPO), Wachstumskapital aufgenommen. Andererseits verschaffen sich unter Druck stehende Unternehmen durch Kapitalmaßnahmen zur Stärkung der Bilanz dringend benötigte Mittel. Wo sind Sie mit dabei?Citi fungierte als Global Coordinator der Bezugsrechtskapitalerhöhung von Rolls-Royce. Es gab ein paar aufregende Tech-IPOs. Neben The Hut Group gehört Allegro aus Polen mit dazu. Wir waren auch beim Londoner Börsengang von Kaspi aus Kasachstan mit dabei. Wir bekommen viele Anfragen. Der IPO-Markt für Wachstumsunternehmen wird also auch im kommenden Jahr aktiv sein. Sie haben also eine Menge Tech-Firmen in der Pipeline?Ja, wir haben einen ordentlichen Auftragsbestand. Dieses Jahr waren die Anleihemärkte sehr aktiv. Übernahmen und Fusionen gab es nicht so viele, aber wir verfügen über eine gut gefüllte M&A-Pipeline für 2021. Die Pandemie ist eine Zeit der Reflexion, nicht nur für einen persönlich, sondern auch für CEOs. So eine Zeit ist in der Regel ein Katalysator für Taten. Wie könnten die aussehen?Unternehmen denken darüber nach, wie sie sich für die Welt nach Covid-19 neu aufstellen können. Wenn wir mehr Klarheit und Vorhersehbarkeit haben, wird es transformative Übernahmen und Fusionen geben. In welchen Branchen könnte das passieren?Wie bei den Kapitalmaßnahmen wird es auch bei M&A eine Trennung in wachstumsorientierte und defensive Transaktionen geben. Wie muss man sich das vorstellen?In den Branchen, die durch Covid-19 unter Druck gekommen sind, wird vielleicht eine Konsolidierung nötig sein, um überleben zu können. Bei Wachstumsthemen wie Technologie, Gesundheit und Wohlbefinden wird es nicht nur Deals innerhalb dieser Segmente geben, sondern auch Industrieunternehmen, die Technologie erwerben wollen, oder verbrauchernahe Firmen, die Interesse an Themen wie Gesundheit und Wohlbefinden haben. Firmen werden sich in Bereiche hineinbewegen, die höheres Wachstum und damit eine höhere Wertschöpfung versprechen. Das bringt höhere Multiples und die nötige Größe, um Skaleneffekte zu erzielen. Wer investiert in solchen Zeiten in Airlines?Für Fluggesellschaften ist die Ungewissheit groß und sie hält noch länger an, wenn es zu weiteren Lockdowns kommt. Sie brauchen sehr langfristig orientierte Investoren, die auf Grundlage von Erfahrungen mit früheren Unterbrechungen des Flugverkehrs bereit sind, einzusteigen. Gibt es denn solche Erfahrungen?Ich glaube nicht, dass es so etwas wie Covid-19 schon einmal gegeben hat, aber natürlich haben sich die Finanzkrise oder 9/11 negativ auf die Branche ausgewirkt. Nach den Terroranschlägen vom 11. September schreckten die Verbraucher auch vor Flugreisen zurück, aber nicht so lange wie in der derzeitigen Situation. Wie lange müsste man auf eine Erholung warten?Wenn man mit Airline-Chefs spricht, rechnen sie mehrheitlich für 2024 mit einer Erholung, die aggressiveren schon 2023, die konservativeren erst 2025. Wenn man in solche Branchen investiert, muss man sicher sein, dass genug Liquidität vorhanden ist, um das Geschäft in den kommenden zwei bis drei Jahren nachhaltig betreiben zu können, und auf eine Erholung der Reisefreudigkeit der Verbraucher in der Zeit danach setzen. Gibt es denn Anlass zur Hoffnung?Es gibt ein paar ermutigende Berichte aus China, wo die Auslastung der Inlandsflüge gestiegen ist. Allerdings wird es wirklich seine Zeit dauern, bis Verbraucher wieder zu internationalen Flugreisen bereit sind. Das Interessante am Einzelhandel ist, dass sich der Anteil der im Internet erwirtschafteten Umsätze rasant erhöht. Bei J Sainsbury waren es zuletzt zwei Fünftel.Wir hatten bereits The Hut Group erwähnt. Das ist ein digitaler Marktplatz. Das Unternehmen hat mit Ingenuity eine Technologie, die es Dritten als Online-Plattform für ihre Marken anbieten will. Das ist ein ähnliches Geschäftsmodell wie das von Ocado.Ja. Die Pandemie hat den Trend zum Online-Einkauf beschleunigt. Die Supermärkte durften zudem geöffnet bleiben. Die Leute kaufen dort weiterhin für den täglichen Bedarf ein. Das ist ein nachhaltiges Geschäftsmodell. Wenn sich diese Unternehmen anpassen und transformieren können, haben sie mit Sicherheit eine Chance. Neben der Pandemie steht auch noch der Brexit vor der Tür. Was bedeutet das für London?Über das Thema haben wir in den vergangenen Jahren wirklich reichlich gesprochen. Ich kam gerade aus New York nach London zurück, als das Referendum abgehalten wurde. Und der Brexit hat immer noch nicht stattgefunden. Covid-19 hat das Thema in den Hintergrund treten lassen. Sehr zur Freude der britischen Regierung.Das stimmt. Hätte es die Pandemie nicht gegeben, wäre das Thema Brexit weit öfter in den Schlagzeilen. Die Finanzbranche ist darauf vorbereitet. Wir waren im Oktober vergangenen Jahres bereit, wir waren es im März und wir sind es auch nun. Für Citi waren die dadurch bedingten betrieblichen Störungen minimal. Schon vor der Volksabstimmung befanden sich mehr als 60 % unserer Mitarbeiter außerhalb von London. Wir haben in vielen europäischen Ländern eine lange Geschichte. In Deutschland nähern wir uns unserem 100. Jubiläum. Wir sind in 21 der 27 EU-Staaten vertreten. Wir fühlen uns so europäisch wie die Europäer. Citi ist auch ein Dinosaurier, neben HSBC eine der letzten wirklich globalen Banken.Ein Gepard, kein Dinosaurier! Wir haben unseren Broker-Dealer in Frankfurt. Unser Banking-Vehikel war schon vor dem britischen EU-Referendum in Dublin – ein glücklicher Zufall. Alles in allem wird die Finanzbranche auch weiterhin in der Lage sein, die Bedürfnisse ihrer Kunden zu erfüllen. Und London?London wird ein wichtiges Finanzzentrum bleiben. Es wird zunehmendem Wettbewerb aus Frankfurt und Paris ausgesetzt sein. Da ist auch schon Personal verlagert worden. Wir sind dafür ein Beispiel, weil wir uns entschlossen haben, unseren Broker-Dealer in Frankfurt anzusiedeln. London wird eine Stadt bleiben, in der Leute mit Talent leben und arbeiten wollen. Aber?Frankfurt hat für Listings eine großartige Börse und ist eine tolle Stadt. Paris hat sich geöffnet. Dublin gilt schon lange als attraktiver Ort, um dort zu leben und zu arbeiten, und ist ein attraktives Finanzzentrum. Der zunehmende Wettbewerb ist eine gute Sache. Der Brexit und die Wahl von Joe Biden in den Vereinigten Staaten geben Europa eine Chance, insbesondere Deutschland und Frankreich. Wir werden in einzelnen Branchen einen Fokus auf europäische Champions sehen. Innerhalb eines Landes ist eine Konsolidierung zwar einfacher, aber ich glaube, wir werden unter diesem Gesichtspunkt eine innereuropäische Konsolidierung sehen. Und ich würde die Finanzbranche davon nicht ausnehmen. Kommt es also endlich zu grenzüberschreitenden Transaktionen?Ja, es kann und wird dazu kommen. Europa befindet sich in einer sehr interessanten Lage. Wenn es agil bleibt und zusammenhält, bietet das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten unter Joe Biden Chancen, denn die USA brauchen ein Gegengewicht zu China. Und für China wäre Europa ebenfalls wichtig. Damit hat Europa eine starke Position. Europäische Unternehmen könnten davon wirklich profitieren. Und Großbritannien?Großbritannien steht dagegen wegen der Kosten der Erholung von der Pandemie und dem Brexit stärker unter Druck. Man hat viel Energie darauf verwandt, ein Freihandelsabkommen mit den USA auszuhandeln. Nun wurde dort eine andere Regierung gewählt. Das könnte den Druck auf Großbritannien erhöhen, sich mit der EU zu einigen. Europa befindet sich also im Zentrum der Aufmerksamkeit aller. Barclays behauptet, den US-Banken im Investment Banking Marktanteile abzujagen. Ist das so?Die fünf großen US-Banken haben in der EMEA-Region in den vergangenen drei Jahren Marktanteile in großem Stil hinzugewonnen. Aus meiner Sicht liegt das daran, dass sie globale Banken sind und ihre Kunden globale Dienstleistungen benötigen, insbesondere die größeren Kunden in Europa. Ist die Globalisierung nicht ein Auslaufmodell?Bei der Bedrohung der Globalisierung handelt es sich vor allem um eine politische Agenda. Wenn ich mit Unternehmenskunden spreche, haben sie eine globale Sicht der Dinge, egal ob es um Expansion, Chancen oder mögliche Bedrohungen geht. Diese globale Perspektive ist sehr wichtig für sie. Citi ist hervorragend aufgestellt und vielleicht das globalste Institut. Und Barclays?Barclays hat in Nordamerika mit der ehemaligen Lehman Brothers eine gute Basis. Sie hatte ein gutes Quartal. BNP war während der Pandemie in der Kreditvergabe sehr aktiv. Das zeigt sich auch in den League Tables. Die Herausforderungen, denen sich die europäischen Banken gegenübersehen, haben mit ihrem Ehrgeiz zu tun, weltweite Banken zu sein. Aber in Europa werden sie immer starke Wettbewerber für uns sein. Wenn uns die Finanzkrise etwas gelehrt hat, dann ist es Demut. Ich habe eine Menge Respekt vor unseren europäischen und US-amerikanischen Wettbewerbern. Und für die Kunden ist es gut, Auswahl zu haben. Gibt es seitens der Unternehmenskunden eine starke Nachfrage nach Krediten?Kurz nach Ausbruch der Pandemie gab es eine starke Nachfrage. Das hat aber deutlich nachgelassen. Die Unternehmen waren in der Lage, sich an den Kapitalmärkten zu finanzieren. Solange die Märkte aufnahmefähig bleiben – und angesichts der Stimuli der Regierungen werden sie liquide und offen bleiben -, wird es eine geringere Nachfrage nach Bankkrediten geben. Wie sieht es mit der Finanzierung von Übernahmen aus?Wir erwarten, dass die M&A-Aktivität 2021 zunehmen wird. Banken stehen selbstverständlich für Brückenfinanzierungen bereit. Der Aktienmarkt hat sich erholt. Unternehmen sind bei diesen Bewertungen eher bereit, neue Aktien auszugeben. Wenn man sich Spreads und Finanzierungskosten bei der Emission von Anleihen ansieht, ist auch das viel attraktiver geworden. Wie sind die aktuellen Bewertungen zu erklären?Die Märkte preisen das Ende von Covid-19 bereits ein. Aus meiner Sicht ist bereits in den Kursen enthalten, dass sich im zweiten Halbjahr 2021 eine Erholung absehen lässt, etwa anhand der Auslieferung von Impfstoffen oder einer Verlangsamung der Neuinfektionen. Dass dies ebenso vorausgesetzt wird wie anhaltende Stützungsmaßnahmen der Regierungen, stellt ein Abwärtsrisiko dar. Welche Katalysatoren es für eine weitere Aufwärtsbewegung geben könnte, ist ungewiss. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich die Rally vollzog, bestehen mit Sicherheit Abwärtsrisiken. Besteht die Gefahr eines landesweiten Lockdowns in den Vereinigten Staaten?Einzelne Bundesstaaten haben relativ unabhängig über ihre Vorgehensweise gegen Covid-19 entschieden. Es ist wahrscheinlicher, dass die Staaten auch weiterhin den Ton angeben. Ich glaube, dass auf beiden Seiten des politischen Spektrums Zurückhaltung herrscht, was einen landesweiten Lockdown betrifft, weil man die wirtschaftliche Erholung nicht opfern will. Was bedeutet die Pandemie für Europa?Das ist eine Chance für Europa, näher zusammenzurücken. Ich hoffe auf ein Europa, das gemeinsam handelt. Die Länder werden ihre kulturellen Identitäten und Börsenplätze behalten. Aber in einer Welt des elektronischen Handels ist der Listing-Standort von Unternehmen für Investoren weniger wichtig. Weshalb?Investoren stecken ihr Geld in großartige Firmen aus der ganzen Welt. Ihnen geht es weniger darum, ob ein Unternehmen in London, Frankfurt oder Paris notiert ist. Sie interessieren sich viel mehr für die Geschäftszahlen und die strategische Ausrichtung. Die Idee, dass ein indigenes Finanzzentrum das beste Finanzzentrum ist, verliert in einer digitalen Investmentwelt an Bedeutung. Ist das nicht auch eine politische Frage und sind nicht daran viele Börsenfusionen gescheitert?Ja, aber das ist der Blick in den Rückspiegel. Wenn wir nach vorn blicken, werden sich die Börsenbetreiber auf Daten fokussieren. Man sieht das am LSE-Refinitiv-Deal. Wir werden mehr Zusammenschlüsse von Börsen und Datenanbietern sehen. Die Finanzbranche könnte durch den elektronischen Handel in Zukunft grenzenlos tätig werden. Wir befinden uns in einer interessanten Situation: Einerseits ist die Globalisierung politisch bedroht, andererseits ermöglichen neue Technologien reibungslosen grenzüberschreitenden Handel und Investitionen. Das Interview führte Andreas Hippin.