Falsche Antwort auf Lehman?
Von Dietegen Müller, FrankfurtDer Kollaps der US-Investmentbank Lehman Brothers vor fast zehn Jahren hat nicht nur den Finanzsektor, sondern auch die Finanzmarktregulierung mit Dodd-Frank und der europäischen Marktinfrastrukturverordnung Emir umgepflügt. So müssen heute außerbörslich gehandelte Standard-Derivate wie Kreditausfallversicherungen (CDS) über ein Clearinghaus zentral verrechnet werden. Doch hat der renommierte amerikanische Risikoexperte Steven L. Schwarcz von der Duke University in einem Vortrag am House of Finance in Frankfurt nun nahegelegt, dass unter bestimmten Annahmen auch nicht-derivative Finanzkontrakte künftig gecleart werden sollten – wobei der Professor zugleich betont, dies sei keine Forderung nach einer Clearing-Pflicht. Die Summen nichtderivativer Kontrakte – im Grunde sämtliche Kreditvereinbarungen – müssen beträchtlich sein: Allein der Wert ausstehender Anleihen betrug laut der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich im Jahr 2016 rund 92 Bill. Dollar, während das Risiko aus Derivaten – also derivativen Kontrakten – auf 19 Bill. Dollar geschätzt wird (BIZ, 2013). Gegenpartei macht es ausZur Begründung für die Clearing-Pflicht nichtderivativer Kontrakte geht Schwarcz einen Umweg. Er definiert zunächst, warum Derivate aus Systemgesichtspunkten an und für sich nicht risikoreich sind: Nicht Kreditderivate an sich bergen mögliche Risiken für die Systemstabilität, sondern die Tatsache, dass sie von mindestens einer systemrelevanten Gegenpartei gehandelt würden. Da aber – und das ist zentral – nichtderivative Kreditprodukte auch in der Regel zumindest von einer systemrelevanten Vertragspartei gehalten werden und die Kontrakte auch ein Ausfallrisiko bergen, das auf die systemrelevante Vertragspartei zurückfallen könne, wäre dies ein Argument, solche Produkte in eine Clearing-Pflicht zu überführen. Der Risikoexperte zieht die Finanzkrise zur Anschauung hinzu: So habe der Lehman-Kollaps systemrelevante Finanzrisiken nicht primär durch Nichterfüllung von Derivatverpflichtungen ausgelöst, sondern dies sei durch die Risiken entstanden, die aus verbrieften Hypothekarkrediten (Mortgage Backed Securities, MBS) herrührten. MBS seien aber nichtderivative Produkte. So hätten die Gegenparteien von Lehman aus Sorge vor einem Kollaps des MBS-Marktes und dem Wertverfall von MBS auf der Bilanz von Lehman mehr Sicherheiten (Collateral) verlangt, was zur Insolvenzerklärung der Investmentbank geführt habe. Die Regulierung habe sich als Folge aber nur der derivativen Kontrakte angenommen, obwohl diese Probleme “mehr eine Folge als eine Ursache des Problems” gewesen seien, meint Schwarcz in seinem Aufsatz “Central Clearing of Financial Contracts: Theory and Regulatory Implications”. Beobachter würden, so Schwarcz, zudem auch das Versagen des Repo-Marktes als Grund für die Finanzkrise identifiziert haben. Repos sind besicherte Wertpapierleihgeschäfte mit gleichzeitiger Rückkaufvereinbarung und nichtderivative Finanzkontrakte. Es gebe deshalb Stimmen, die dazu raten, dass zentrale Gegenparteien (CCP) in Repo-Transaktionen zum Einsatz kommen sollten. Keine saubere AnalyseWürden aber die Kosten, die durch ein zentrales Clearing von nichtderivativen Kontrakten entstehen, gerechtfertigt sein im Verhältnis zum Nutzen? Dieser Nachweis sei schon bei der Clearing-Pflicht für derivative Produkte nicht eindeutig erbracht worden, sagt Schwarcz. So habe die Europäische Kommission die Clearing-Pflicht für standardisierte außerbörsliche Terminkontrakte ohne Kosten-Nutzen-Analyse durchgesetzt. Schwarcz hält auch fest, dass einige Wissenschaftler argumentieren, Clearing-Pflichten würden keineswegs systemische Risiken verringern, sondern nur Gegenparteirisiken von individuellen Adressen auf die CCPs verschieben. Im Gespräch meint Schwarcz: “Wir wissen es nicht, ob Clearing-Pflichten wirklich Systemrisiken verringern”. Schätzungen zufolge hat die Finanzkrise Kosten von rund 22 Bill. Dollar verursacht. Ob nun die Transaktionskosten für das Clearing nichtderivativer Kontrakte zu rechtfertigen wären, ist eine Frage, an der sich die Geister scheiden: So meinte in der Diskussion mit Schwarcz ein Vertreter eines Clearing-Hauses, Transaktionskosten seien eine Funktion der Liquidität des geclearten Kontrakts. Gerade bei wenig liquiden, vom Nominalvolumen her aber gewichtigen Anleihen würde der Liquiditätsfaktor zu hohen Kosten führen. Der Anleihenhandel verteile sich aber in Europa wiederum auf eine geringe Zahl großer Marktteilnehmer, wodurch es bereits erhebliche Netting-Effekte gebe.Was eine Clearing-Pflicht für nichtderivative Kontrakte anbelangt, sei aus Kosten-Nutzen-Erwägungen eine Pflicht nur für standardisierte Kontrakte sinnvoll, sagt Schwarcz. Es gebe bereits eine steigende Anzahl von Kreditvereinbarungen, die nach den Standards der International Swaps and Derivatives Association (ISDA) dokumentiert würden, weil Gegenparteien so in Genuss von Sonderregelungen im Insolvenzfall (Safe Harbor) kämen. Achtung SchieflageEin weiterer Aspekt, den Schwarcz hervorhebt, kommt in der europäischen Debatte um Sanierungs- und Abwicklungsregeln für zentrale Gegenparteien zum Tragen: Was, wenn die Muttergesellschaft eines Clearing-Hauses schwach kapitalisiert ist und bei einer Schieflage ihrer Clearing-Tochter diese nicht stützen kann? Schwarcz wies auf den US-Börsenbetreiber Intercontinental Exchange (ICE) hin, der eine “aggressive” Expansionsstrategie verfolge und eine hohe Verschuldung auf der Bilanz aufgebaut habe. Zugleich betreibe ICE mit ICE Clear einen bedeutenden Clearing-Anbieter in Europa. Was Schwarcz nicht erwähnte: Im jüngsten CCP-Stresstest der europäischen Marktaufsicht ESMA hatte ICE Clear nicht in allen Stressszenarien die gewünschten Resultate gezeigt (vgl. BZ vom 3. Februar). Das Argument, dass auch nichtderivative Finanzprodukte – angesichts ihres schieren Volumens systemrelevant – zentral gecleart werden sollten, hat etwas. Allerdings unterstellt es, dass das Clearing Risiken mindert und nicht einfach nur verschiebt.