Finanzinnovation oder Taschenspielertrick
Von Anna Sleegers, Frankfurt
Die Greensill-Pleite hat mit der Lieferkettenfinanzierung eine Praxis ins Rampenlicht gerückt, die in den vergangenen Jahren weltweit an Bedeutung gewonnen hat. Das Prinzip ähnelt dem klassischen Factoringgeschäft, bei dem ein Unternehmen die Forderungen gegenüber seinen Kunden an ein spezialisiertes Institut abtritt, um schneller an sein Geld zu kommen. Bei der auch als „Reverse Factoring“ bekannten Lieferkettenfinanzierung schaltet das Unternehmen das Factoringinstitut zwischen sich und seine Lieferanten.
Das Modell birgt Vorteile für alle Beteiligten. Der Factoringkunde pflegt durch die prompte Bezahlung seine Lieferantenbeziehung, schont seine Liquidität und kann das Skontro ziehen, das ihm dafür gewährt wird. Der Lieferant muss nicht auf sein Geld warten, und das Factoringinstitut kassiert Entgelte für seine Dienstleistung. Besonders stark gefragt war die Lieferkettenfinanzierungen zu Beginn der Pandemie, als viele Unternehmen sicherheitshalber Liquidität horteten.
Unterschätztes Risiko
Lieferkettenfinanzierung ist also eine Finanzdienstleistung, die den Anspruch erfüllt, Wirtschaftsabläufe reibungsloser zu gestalten. Zumindest in der Theorie. In der Praxis birgt das Reverse Factoring jedoch unterschätzte Risiken. So besteht etwa der entscheidende Unterschied zum herkömmlichen Factoring, dass der Gläubiger seine Kreditvergabe hierbei nicht durch die zugrundeliegenden Forderungen absichern kann.
Intransparente Bilanzierung
Zudem können Unternehmen die zum Teil komplexen Vereinbarungen nutzen, um ihre finanzielle Situation zu verschleiern. Wie die Ratingagentur Fitch in einem anlässlich der Greensill-Pleite veröffentlichten Beitrag in Erinnerung ruft, gibt es für die im Rahmen des Reverse Factoring abgetretenen Forderungen und die dazugehörigen Cash-flows bislang keine klaren Offenlegungspflichten. Daher können sie als Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen ausgewiesen werden, wodurch sie nicht in die üblicherweise für die Bewertung der Kreditwürdigkeit maßgebliche Verschuldungsquote einfließen.
Diese intransparente Bilanzierungspraxis brach in den vergangenen Jahren schon manchem Unternehmen das Genick. Als Beispiele zählt Fitch die Insolvenzen des spanischen Energieversorgers Abengoa, des britischen Baukonzerns Carillion und des Gesundheitsdienstleisters NMC Health aus den Vereinigten Emiraten auf. Neben Wirtschaftsprüfern und Ratingagenturen äußerte auch die europäische Finanzaufsichtsbehörde ESMA wiederholt den Wunsch nach einheitlichen Veröffentlichungsstandards. Vor diesem Hintergrund hoben im vergangenen Herbst die Standardsetzer vom FASB (Financial Accounting Standards Board) die Lieferkettenfinanzierung auf die Agenda.
Auf seiner Sitzung Anfang Dezember entschied sich das für die Entwicklung von konkreten Handlungsanweisungen zuständige IFRS Interpretation Committee dann aber dagegen, ein Projekt aufzusetzen, um die Darstellung von Vereinbarungen zur Lieferkettenfinanzierung zu vereinheitlichen. Die bestehenden Bilanzierungsstandards und -anforderungen böten eine geeignete Grundlage, um Verbindlichkeiten und damit verbundene Cash-flows abzubilden, und die daraus erwachsenden Risiken könnten in den Fußnoten veröffentlicht werden, heißt es in der Begründung, die auf der Website der IFRS-Stiftung abrufbar ist.
Die Ratinganalysten von Fitch hoffen darauf, dass dem von den Standardsetzern für 2021 erwogenen Projekt zu den spezifischen Offenlegungspflichten vor dem Hintergrund der Greensill-Pleite mehr Gewicht beigemessen wird. Immerhin zeige der Fall, wie sehr die intransparente Behandlung von Vereinbarungen zu Lieferkettenfinanzierungen die Analyse von Abschlüssen erschweren kann. So soll Greensill dem Stahlkonzern GFG Alliance im Rahmen der komplexen Vereinbarungen etwa auf der Basis von Rechnungen von mit dessen Eigentümer Sanjeev Gupta verbundenen Unternehmen Finanzmittel zur Verfügung gestellt haben.