Geheimnisse der Allianz-Personalpolitik
Von Michael Flämig, MünchenDer Anruf kam überraschend an jenem 18. Dezember 2002. In zwei Stunden veranstalte man eine Pressekonferenz in der Münchner Königinstraße 28, hieß es am anderen Ende der Leitung. Das Timing war eine Sensation: Henning Schulte-Noelle kündigte an diesem Wintertag seinen Rückzug vom Vorstandsvorsitz der Allianz an. Michael Diekmann als sein designierter Nachfolger setzte die Formulierung an den Anfang seines Statements: “Ich sitze heute mit gemischten Gefühlen hier.”Fast zwölf Jahre später stehen wieder wichtige Personalentscheidungen bei dem Branchenprimus an. Am 2. Oktober wird der Aufsichtsrat des Versicherers erklären, wie er den Vorstand teils neu besetzt. Die Verträge von sechs der elf Mitglieder laufen aus. Dies sind: Vorstandsvorsitzender Michael Diekmann, Finanzvorstand Dieter Wemmer sowie Manuel Bauer, Clement Booth, Helga Jung und Werner Zedelius.Nicht jede Position steht in Frage, sicherlich. Manche Mitglieder sind erst vor wenigen Jahren berufen und daher mit nicht so lang laufenden Verträgen ausgestattet worden. Andere Vorstände gelten als unverzichtbar. Trotzdem ist eine Neuordnung in dem Führungsgremium möglich. Schließlich ist der Altersdurchschnitt wieder deutlich gestiegen, nur zwei der Vorstandsmitglieder sind jünger als 50 Jahre. Auch die Sinnhaftigkeit von Ressortzuschnitten und -zuordnungen kann bei dieser Gelegenheit analysiert werden. Ob Diekmann bis Ende 2014, bis zur Hauptversammlung 2015 oder länger als Vorstandschef agiert, wird dann ebenfalls öffentlich verkündet. Hahnenkämpfe sind tabuDie Ausgangslagen 2002 und 2014 könnten nicht unterschiedlicher sein. Während zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts ein Milliardenverlust verdaut werden musste und damit ein Stabwechsel an der Konzernspitze naheliegend erschien, steuert die Allianz im laufenden Jahr auf einen Gewinn in Rekordhöhe zu. Auch in anderer Hinsicht ist ein Vergleich nicht sinnvoll: Der Zeitpunkt des Stabwechsels von Schulte-Noelle zu Diekmann war überraschend. Der Monat Oktober für die aktuellen Entscheidungen wird dagegen schon lange offiziell genannt.Trotzdem gibt es ein Band, das die Ereignisse über das Dutzend Jahre hinweg verbindet: Die Nervosität, mag sie im Unternehmen auch vorhanden sein, dringt kaum nach außen. Durchstechereien sind tabu, Ränkespiele und Positionierungen enden fast vollständig an der Konzerngrenze. Dies ist keine Selbstverständlichkeit, wie andere Großkonzerne immer wieder vorexerzieren. Bei Siemens gingen den vergangenen beiden Wechseln an der Vorstandsspitze umfangreiche Hahnenkämpfe voraus, auch die Deutsche Bank kann ein Lied davon singen. Zwar hat die Allianz ebenfalls die Erfahrung gemacht, dass seit vielen Monaten öffentlich über die Kandidaten für eine eventuelle Diekmann-Nachfolge spekuliert wird – insofern mag die Nennung des Termins Oktober nicht ganz freiwillig gewesen sein. Doch mit Siemens sowie Deutscher Bank & Co. ist dieser Sturm im Wasserglas nicht vergleichbar. Was zeichnet die Allianz aus?Besonders augenfällig ist eine Personalpolitik der ruhigen Hand. Ihre demnächst 125-jährige Geschichte hat die Allianz mit nur neun Chefs gemeistert, während die katholische Kirche im gleichen Zeitraum von elf Päpsten geleitet wurde. Wer es an die Allianz-Spitze schafft, der muss nicht in endlosen Karrierespielen seine Position absichern, sondern kann sich dem Geschäft und damit operativen Ergebnissen widmen. Mindestens ebenso viel Kontinuität sichert der Konzern an seinen Schnittstellen zu Wirtschaft und Gesellschaft im weiteren Sinn. Die Unternehmenskommunikation wird seit 1992 kenntnisreich und geschickt aus einer Hand gesteuert. Seit 1998 gab es auch an der Spitze der Abteilung Investor Relations keinen Wechsel mehr. Investoren singen ein Hohelied auf diese Konstanz.Was fördert diese Beständigkeit, die ja keineswegs mit Stagnation, sondern mit vielen strukturellen Veränderungen verbunden ist? Veranschaulichen lassen sich die bestimmenden Faktoren an jenem einzigen prominenten Fall, bei dem die Personalpolitik der Allianz in jüngerer Zeit Schiffbruch erlitten hat: dem Abschied des Pimco-Chefs Mohamed El-Erian. Abrupt hatte er, wohl im Streit mit seinem Chef-Kollegen Bill Gross, das Handtuch geworfen. Die Nachfolgeplanung war damit gescheitert. Die Unterschiede zwischen der Allianz und ihrer zugekauften Tochter Pimco: Bei der Fondsgesellschaft folgt das Geschäftsmodell einer anderen Logik, es werden fundamental unterschiedliche Werte gelebt, und es wird eine Heroisierung der Führungsfigur betrieben. Prägendes GeschäftsmodellDas Geschäftsmodell: Während bei Pimco der Quartalserfolg zählt, ist die Allianz langfristig ausgerichtet. Schwächelt ein Geschäftsfeld wie in den vergangenen Jahren die Sachversicherung in Deutschland, so benötigt der Turnaround mehrere Jahre. Konstanz ist in diesem Umfeld ein Asset – zumal das Geschäft mit Versicherungen erst einmal geistig durchdrungen werden muss, bevor Änderungen initiiert werden können. Dieses langfristig angelegte Geschäftsmodell wirkt sich naturgemäß auf die Personalplanung aus.Die Werte als zweiter Faktor sind ein weites Feld. Herausgegriffen sei ein Aspekt: Pimco wird zentral durch Belohnungssysteme getrieben. Besonders markant ist dagegen bei der Allianz, dass die individuelle Kompetenz in der Königinstraße im Schnitt der Fälle eine größere Rolle spielt als bei anderen großen Konzernen. Dort sind in der Top-Etage Sympathien oder Abneigungen entscheidend für die Karrierewege. Wer kann mit wem, lautet die Frage. Natürlich muss auch bei der Allianz die persönliche Chemie stimmen bei jenen Akteuren, die aufeinander angewiesen sind. Aber die Kompetenz von Bereichen oder Personen – knallhart gemessen auch am Output – steht spürbar im Vordergrund. Beispielsweise fällt auf, dass wichtige Abteilungsleiter bei Chefwechseln keineswegs automatisch weichen müssen. Kommunikation sowie Investor Relations sind hierfür nur besonders sichtbare Beispiele.Dieser Wert “Kompetenz” spielt hinein in den dritten Faktor: Bei der Allianz stehen nicht Personen, sondern Themen im Vordergrund. Die Positionierung der Vorstände mit ihren Spezialthemen macht dies bereits deutlich. Bei anderen Konzernen übernehmen die Vorstandschefs fast komplett die öffentliche Kommunikation – bei Pimco gehört die Personalisierung sogar zur Vertriebsstrategie. Die Zurückhaltung bei der Allianz dagegen wirkt sich auch intern aus. Die meisten Vorstände stellen nicht ihre Positionierung als Chef in den Vordergrund.Diekmann selbst hatte sich bei seinem Amtsantritt das Thema Personalentwicklung auf die Fahne geschrieben. Die Früchte dieser Anstrengungen kann er nun ernten.