GASTBEITRAG

Gelebte Proportionalität

Börsen-Zeitung, 13.9.2018 "So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig", sagte einst der deutsche Wirtschaftsminister Karl Schiller und beschrieb so in wenigen Worten die delikate Balance zwischen freiem Wettbewerb und regulierender Hand, die...

Gelebte Proportionalität

“So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig”, sagte einst der deutsche Wirtschaftsminister Karl Schiller und beschrieb so in wenigen Worten die delikate Balance zwischen freiem Wettbewerb und regulierender Hand, die für eine funktionierende Marktwirtschaft nötig ist. Damals, Ende der 1960er Jahre, hatten Länder wie Großbritannien gerade zum zweiten Mal ihren Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften beantragt, und die Globalisierung war, wenngleich durchaus schon real, für die Allgemeinheit noch ein Fremdwort. In diesem Klima einer zunehmenden Vernetzung und Internationalisierung entwickelte sich der deutsche Mittelstand über die Jahre zu dem, was er heute ist: ein bestimmender Faktor der deutschen Wirtschaftsleistung und ein Erfolgsmodell, das weltweit seinesgleichen sucht.Der deutsche Mittelstand ist ein gewachsenes System. Es besteht zum einen aus Gründern, Tüftlern und Machern, die mit Ideen, Fleiß und ihrer “deutschen Gründlichkeit” weltweit gefragte Produkte und Dienstleistungen schaffen. Einen anderen, ebenso wichtigen Teil, übernehmen diejenigen, die Hunderttausende mittelständische Unternehmen mit dem notwendigen Kapital versorgen. Waren das einst überwiegend die Banken, so haben sich innerhalb der vergangenen 50 Jahre alternative Finanzierungsformen wie Leasing und Factoring fest etabliert. Leasing wird für über die Hälfte aller außenfinanzierten Ausrüstungsinvestitionen genutzt.Doch dieses gut funktionierende, zugegebenermaßen sehr deutsche System aus Mittelstand und mittelständischen Finanzdienstleistern spielt bisher in der internationalen Diskussion zum Umgang mit globalen Finanzrisiken keine Rolle. Die Finanzkrise der Jahre 2008/2009 hat zu einem neuen Kapitel der Regulierung der Finanzmärkte geführt, das durchaus seine Berechtigung hat. Zu Auswüchsen, wie sie damals das globale Finanzsystem an den Rand des Abgrunds brachten, darf es in der Tat nicht mehr kommen. Schließlich profitieren auch der deutsche Mittelstand und die mittelständische Leasing-Wirtschaft von stabilen Finanzmärkten.Allerdings hat diese neue, von einem klaren Fokus auf Großbanken geprägte Regulierung auch dazu geführt, dass mittelständische Leasingunternehmen in Deutschland, die ein ganz anderes Geschäftsmodell und ein geringeres Risikoprofil haben, einem überproportionalen Regulierungsdruck unterliegen. Eine durch Konsolidierung abnehmende Vielfalt sowie deutlich höhere Kosten sind die gravierenden Folgen. Das weitgehende “One size fits all”-Prinzip der Regulierung droht das Geschäft der Leasingunternehmen und damit die Rahmenbedingungen für Investitionen weiter zu verschlechtern. Angesichts einer seit Jahren ohnehin verhältnismäßig geringen Investitionsneigung der deutschen Wirtschaft und des sich eintrübenden konjunkturellen Horizonts sind das keine guten Vorzeichen für die kommenden Jahre.Politik und Aufsicht haben in jüngster Zeit signalisiert, den Regulierungsdruck lindern und der Proportionalität ein größeres Gewicht geben zu wollen. Das ist durchaus zu begrüßen. Auf Basis einer kritischen Bestandsaufnahme und im konstruktiven Dialog zwischen Finanzaufsicht und Finanzwirtschaft müssen Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Regulierung (auch im Zusammenspiel ihrer Bestandteile) überprüft werden. Dabei sollte auch der vergleichende Blick über die innereuropäischen Grenzen nicht gescheut werden, denn in der nationalen Umsetzung des europäischen Regelwerks sind Gesetzgeber und Aufsicht in Deutschland häufig “führend”. So werden nicht selten Vorschriften für CRR-Institute in Deutschland auf Finanzdienstleister übertragen oder zum Maßstab für die Beaufsichtigung erhoben, ohne dass europäische Standardsetzer dies intendiert hatten.Ziel sollte es sein, im Schulterschluss zwischen Finanzwirtschaft und Finanzaufsicht an einer “gelebten Proportionalität” zu arbeiten, also an einer Umsetzung der Vorschriften, die das Geschäftsmodell der mittelständischen Finanzdienstleister berücksichtigt.In einigen Punkten wird es aber nicht genügen, Vorschriften, die eigentlich für systemrelevante Großbanken gedacht waren, durch eine interpretierende Anwendung ihre Schärfe zu nehmen und sie so den hiesigen mittelständischen Verhältnissen anzupassen. Hier bedarf es einer echten und gesetzlich verankerten Differenzierung.Denn Leasingunternehmen wie auch kleinere Finanzinstitute waren nicht systemrelevant und werden es niemals sein. Im Gegenteil: Zu Zeiten der Finanzkrise, während der das Kreditgeschäft nahezu zum Erliegen gekommen war, sorgten sie für den nötigen Kapitalfluss in der Wirtschaft. Deshalb sind sie nicht Teil des Problems, sondern vielmehr Teil einer Lösung, die im Interesse aller Beteiligten – und vor allem der mittelständischen Wirtschaft – sein sollte.—-Kai Ostermann, Präsident Bundesverband Deutscher Leasing-Unternehmen BDL