Gestählt für die Zukunft

Wirtschaftlichen Wandel verstetigen - Breite industrielle Basis ist Fundament des Aufschwungs - Staaten der zweiten Reihe werden für Exporte interessanter

Gestählt für die Zukunft

Lange wurde Nordrhein-Westfalens Industrie nur eine bedingte Zukunftsfähigkeit bescheinigt. Spätestens in der Finanz- und Wirtschaftskrise war die breite industrielle Basis jedoch Fundament des Aufschwungs. Die Globalisierung und die zunehmende Bedeutung der aufstrebenden Schwellenländer versprechen weitere Impulse für die hiesige Wirtschaft. Köpfe rauchen, keine SchloteDie rauchenden Schlote des Ruhrgebiets prägten lange Zeit das Bild der nordrhein-westfälischen Wirtschaft, später waren es dann die Staubwolken der Industrieruinen, und inzwischen sind es die rauchenden Köpfe. Der Niedergang der Montanindustrie zwang das “Land von Kohle und Stahl” zum viel diskutierten Strukturwandel, der zu einer stärker dienstleistungsorientierten Wirtschaft führen soll, einer wissensbasierten Ökonomie der kreativen Köpfe. Bis heute wird Nordrhein-Westfalen das Image nicht los, den industriellen Wandel und damit die wirtschaftliche Zukunft verschlafen zu haben. Dabei hat sich das Land längst neu erfunden: Entfielen 1970 noch 56 % des Bruttoinlandsprodukts auf das produzierende Gewerbe, sind es heute nur noch 27 %. Und während einst 90 % der Beschäftigten in der Montanindustrie schufteten, sind es heute nur noch etwa 10 %. Die Wissensgesellschaft scheint längst in Sicht: Köpfchen statt Kohle, Schreibtische statt Schächte, Forschung statt Fördertürme. Es bleibt allein die Frage, wann dieser Strukturwandel endlich abgeschlossen ist. Zu einem guten Stück ist die Vision des Strukturwandels heute Realität, dies ist die vorläufige Antwort. “German Miracle”Der viele Rauch und Ruß scheinen allerdings den Blick ein wenig zu vernebeln: Denn erstens ist eine wirkliche Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft in Nordrhein-Westfalen ebenso wie in Deutschland noch in weiter Ferne. Und zweitens ist das Erreichen einer solchen dann doch nicht so erstrebenswert. Denn was für viele hierzulande bis heute den schalen Nachgeschmack des letzten Jahrhunderts hat, erscheint im Ausland mehr und mehr als eine deutsche Rezeptur, die sich nicht zuletzt in der Finanz- und Wirtschaftskrise bewährt hat: eine Wirtschaftsstruktur, die weiterhin auch auf die bewährte Stärke industrieller Produktion setzt.Nicht wenige Staaten in Europa haben einen Prozess der radikalen Deindustrialisierung durchgemacht und sich rasant in reine Dienstleistungsgesellschaften verwandelt. Während beispielsweise der Anteil des produzierenden Gewerbes an der Wirtschaftsleistung in Frankreich heute bei bescheidenen 19 % liegt, kann Deutschland auf einen um rund die Hälfte höheren Anteil verweisen – eine wesentliche Zutat für das “German Miracle” der schnellen wirtschaftlichen Erholung nach der Krise, so meinen nicht wenige. Trotz der unbestreitbar steigenden Bedeutung von Service und Wissen wird eine starke Industrie auch in Zukunft weiter gefragt sein: Zum einen ist es die “industrielle Basis”, die eine vielfältige Dienstleistungsgesellschaft trägt. Noch besser trifft es “produktiver Humus”, bildet das produzierende Gewerbe doch den Nährboden für den gesamten tertiären Sektor. Nirgendwo sonst in Deutschland ist die Wirtschaft derart stark diversifiziert, und in kaum einer anderen Region haben unternehmensnahe Dienstleister wie IT- oder Beratungsunternehmen, Forschungsinstitute und Ingenieurbüros eine so große Bedeutung wie in Nordrhein-Westfalen – was wiederum die Industrie beflügelt. Kaum irgendwo sonst befruchten zudem auch innerhalb der Industrie die diversen Branchen und Regionen einander so stark wie hierzulande.Entgegen der weit verbreiteten Meinung war das einwohnerstärkste Bundesland seit jeher deutlich mehr als nur das Ruhrgebiet mit seiner Montanindustrie. Man denke nur an die Region Ostwestfalen-Lippe, einen der stärksten deutschen Wirtschaftsstandorte, oder das bergische Städtedreieck, Wuppertal – Solingen – Remscheid, eine der ältesten Industrieregionen Deutschlands. Oder an die Technologiekompetenz in Aachen und Umgebung und die Region Siegen, in der die Industrie fast die Hälfte aller Arbeitsplätze stellt. Keine Region des Bundeslands, die nicht ihre eigene Stärke aufweist. Nicht zu vergessen die neun Dax-Konzerne, die in Nordrhein-Westfalen zu Hause sind. Industrielles Erbe ist ChanceZum anderen ist der Erfolg der hiesigen Wirtschaft wesentlich exportgetrieben. Die Ausfuhren des verarbeitenden Gewerbes hatten einen großen Anteil daran, dass Nordrhein-Westfalen sich zügig von der allgemeinen Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre abkoppelte.Diese historisch gewachsenen Stärken sollten auch als solche gesehen werden: Das industrielle Erbe ist keine Hypothek, sondern eine Chance, die es weiter zu nutzen gilt. Was keineswegs heißt, dass in Nordrhein-Westfalen die alten Schlote wieder rauchen müssen. Selbst innerhalb der traditionell starken Branchen wie Metall, Maschinenbau oder Chemie sind es schon längst die modernen Spitzentechnologien, die international stark nachgefragt sind – ob vom bekannten Weltmarktführer produziert oder von den zahllosen “Hidden Champions” aus dem Mittelstand. Der Exportrekord mit einem Außenhandelsvolumen von 181,7 Mrd. Euro im vergangenen Jahr zeigt: Nordrhein-Westfalen ist und bleibt unter den Bundesländern der deutsche Export-Meister. Europa bleibt im FokusDoch haben die allgemeine Wirtschaftskrise und die anhaltende Staatsschuldenkrise nicht nur die Stärken der hiesigen Wirtschaftsstruktur unterstrichen, sondern auch – noch ganz beiläufig – auf künftige Herausforderungen hingewiesen. Denn während der weltwirtschaftliche Motor die hiesige Ökonomie zunächst antrieb, brachte die anhaltende europäische Staatsschuldenkrise sie ein wenig ins Stottern. 75 % der nordrhein-westfälischen Ausfuhren gehen schließlich an europäische Länder, deren Nachfrage durchaus vom allgemeinen Sparkurs beeinträchtigt wird. Der Europa-Fokus dürfte angesichts der räumlichen Nähe noch eine gute Weile Bestand haben. Doch wachsen andere Regionen in der Welt schon heute wesentlich dynamischer – und bieten vor allem langfristig großes Potenzial. Laut Analysten der HSBC werden 2050 fast zwei Drittel der 30 größten Volkswirtschaften heutige Schwellenländer sein.Für die nähere und fernere Zukunft sind damit geradezu tektonische Verschiebungen innerhalb der globalen Ökonomie zu erwarten. Vor allem China holt gegenüber den etablierten Exportmärkten seit Jahren rasant auf. Derzeit ist davon auszugehen, dass China 2030 Frankreich und die Vereinigten Staaten als wichtigsten Handelspartner deutscher und nordrhein-westfälischer Unternehmen ablösen wird. Absatzmärkte ändern sichAuch Russland und die Türkei sind wachsende Absatzmärkte für Qualitätsprodukte “Made in NRW”. Während mit fortschreitender Globalisierung nun weitere Länder aus Asien und Südamerika folgen, rücken zudem abseits der bekannten Emerging Markets zahlreiche Staaten aus der zweiten Reihe in den Fokus, die sich derzeit auf dem Weg zum Schwellenland befinden. Länder wie Indonesien, Malaysia und die Türkei werden im nächsten Jahrzehnt aufgrund ihres hohen Wachstums an Bedeutung gewinnen und rücken in den Fokus der hiesigen Unternehmen. Diese Situation ist die “neue Normalität”, der sich Wirtschaftsakteure stellen müssen, insbesondere in einem weltweit so stark vernetzten Bundesland wie Nordrhein-Westfalen.Die Frage, wann der Strukturwandel in Nordrhein-Westfalen denn endlich abgeschlossen ist, ist daher weniger relevant. Wie wirtschaftlicher Wandel verstetigt werden kann, gilt es nun vielmehr zu fragen – gestählt durch die bereits bewältigten Herausforderungen dürfte Nordrhein-Westfalen eine treffende Antwort parat haben.Andreas Schmitz, Sprecher des Vorstands von HSBC Trinkaus