Global Player mit Führungs- und Verantwortungsethos
Herrhausen: Banker, Querdenker, Global Player. Ein deutsches Leben. Friederike Sattler. Siedler, München, 2019. ISBN 978-3-8275-0082-3, 816 Seiten. 36 Euro. Von Thomas List, Frankfurt Warum liest man eine Biografie? Um mehr über einen interessanten Menschen zu erfahren. Und über die Zeit, in der er gelebt hat. Wenn sein Leben schon länger zurückliegt – Alfred Herrhausen, zuletzt alleiniger Vorstandssprecher der Deutschen Bank, wurde vor 30 Jahren, am 30. November 1989, durch einen Bombenanschlag ermordet – wäre es besonders reizvoll, wenn sein damaliges Wirken auch noch Auswirkungen auf die Gegenwart hätte.Herrhausens Biografie will genau das zeigen. Im Klappentext heißt es, die Autorin Friederike Sattler, Historikerin und Lehrbeauftragte an der Goethe-Universität Frankfurt, führe den Leser in die siebziger und achtziger Jahre, deren Auswirkungen noch heute zu spüren seien. Dabei gehe sie der Frage nach, ob sich der ehemalige Deutsche-Bank-Vorstandssprecher immer mehr von einem sozialpartnerschaftlich gebundenen Modell des Kapitalismus entfernte und damit zu seiner Transformation in einen globalen “Finanzkapitalismus” beitrug. Außerdem behandele sie die Frage, inwiefern er mitverantwortlich war für die Probleme, mit denen die Deutsche Bank heute zu kämpfen hat. Keine einfachen AntwortenEs überrascht nicht, dass Sattler darauf keine einfachen Antworten gibt, sie kann es auch gar nicht geben. Aber sie macht auf 638 reinen Textseiten verständlich, was Herrhausen angetrieben, wo er Einfluss genommen und was er durchgesetzt hat (und was nicht).Die Historikerin, die zuletzt eine Festschrift zu 250 Jahren Pfandbrief geschrieben hat und Mitautorin einer 2020 erscheinenden Darstellung zu 150 Jahre Commerzbank ist, beginnt mit Kindheit und Jugend in Dortmund und verortet bei Herrhausen angeborene Eigenschaften wie Ausdauer, Energie, Willensstärke, Optimismus sowie Leistungsorientierung, die allenfalls durch das Elternhaus verstärkt wurden.Durch die Reichsschule der NSDAP, die Herrhausen von 1942 bis Kriegsende besuchte, kamen ein starkes Elitebewusstsein, gepaart mit Kameradschaftsgefühl und Verantwortungsbewusstsein hinzu – Eigenschaften, die ihn ein Leben lang prägten. Sein Pragmatismus veranlasste ihn, ab 1949 Betriebswirtschaftslehre zu studieren, obwohl er eigentlich Lehrer werden wollte. Das Vermitteln von Wissen und Erfahrung war ihm ein stetiges Anliegen, zu Beginn durch eine nebenberufliche Lehrtätigkeit, später durch eine Vielzahl von Vorträgen. Wie sehr ihn das Lehren faszinierte, zeigte sich 1988, damals schon Vorstandssprecher der Deutschen Bank, als er bekannte, er wäre, könnte er nochmals von vorn anfangen, sicher nicht Banker geworden, sondern hätte unterrichtet.Ausführlich geht Sattler auf Herrhausens erste berufliche Station nach der Promotion 1955 ein, den Vereinigten Elektrizitätswerken Westfalen (VEW) in Dortmund. Von dort konnte er schon 1956 für einige Monate in New York Erfahrungen in einer US-Bank sammeln. Zur Behebung der notorischen Kapitalschwäche setzte Herrhausen auf eine Teilprivatisierung der VEW, deren Umsetzung ihn mit der Deutschen Bank und ihrem Vorstandsmitglied F. Wilhelm Christians zusammenbrachte und 1967 in den VEW-Vorstand führte. Christians erlebte ihn nicht nur als Finanzfachmann, sondern auch als strategisch denkenden, zielstrebigen und geschickten Verhandlungspartner, weshalb er ihm anbot, Deutsche-Bank-Vorstand zu werden.Herrhausen zögerte nicht lange, bot die damalige Nummer 1 unter den Großbanken als eines der angesehensten Unternehmen der Bundesrepublik einfach das “größere Klavier”. Anfang 1970 zog Herrhausen in den Vorstand ein und zeigte sich als gründlicher Denker, als jemand, der das Wesentliche erkennen und definieren konnte, so sein Vorstandskollege Hilmar Kopper.Im Detail zeichnet Sattler die globalen Aktivitäten Herrhausens nach, die so vielfältig und zeitraubend waren, dass man sich fragt, wie er das alles schaffen konnte. Besonders bekannt wurde er durch die Forderung an private Banken, einen teilweisen Forderungsverzicht gegen hoch verschuldete Länder zu erwägen. Dieser Tabubruch führte zu heftiger Kritik, nicht zuletzt in der eigenen Bank.Herrhausen nutzte seine vielen Aufsichtsratsmandate nicht nur zur Kontrolle, sondern zur aktiven Beratung und brachte dabei auch eigene, teilweise unkonventionelle Ideen ein. Wie er dabei agierte, zeigt Sattler am Beispiel der Continental Gummiwerke, deren Aufsichtsrat er bis zu seinem Tod angehörte. Er versuchte weitreichende Pläne für die Neuordnung der nicht mehr wettbewerbsfähigen deutschen Reifenindustrie durchzusetzen. Als er sich damit nicht durchsetzen konnte, veranlasste er, dass die Deutsche Bank alle ihre Continental-Aktien verkaufte.Herrhausen nahm für sich in Anspruch, Dinge nicht nur gründlich, sondern auch “richtig” zu durchdenken. Seine Argumente versuchte er dann auch mit harten Bandagen durchzusetzen.Als Ultima Ratio war er auch bereit, Vorstände auszuwechseln. Bei Ausübung seiner Mandate standen, so sein Anspruch, die Interessen des jeweiligen Unternehmens an oberster Stelle, nicht die der Bank. Die Macht der Banken stritt er nicht ab, sondern wollte sie sichtbar machen und rational erklären.In der Deutschen Bank bemühte sich Herrhausen mit hohem persönlichen Einsatz um die Firmenkunden, um die Stellung als Hausbank zu verteidigen. Dabei warb er verstärkt für das Auslandsgeschäft, das er auch für die eigene Bank propagierte – zuerst durch Repräsentanzen und Gemeinschaftsunternehmen mit anderen Banken, dann immer mehr über eigene Filialen und Töchter.Ein besonderes Anliegen Herrhausens war das Investment Banking. Er wollte die Deutsche Bank zu einem multinationalen Bankkonzern mit einer einheitlichen Steuerung machen, konnte aber die aus seiner Sicht dafür erforderliche divisionale Konzernstruktur mit integriertem Investment Banking bis zu seinem Tod im Vorstand nicht durchsetzen. Das frustrierte ihn so stark, dass er die Niederlegung seines Vorstandsmandats – er war seit 1988 alleiniger Vorstandssprecher – erwog. Fehler der NachfolgerSattler lässt in ihrem Epilog erkenne, dass sie die von Herrhausens Nachfolger Kopper und seinen Vorstandskollegen beschlossene divisionale Struktur mit einem eigenständigen Investment Banking für einen Fehler hält. Denn die Investmentbanker hätten durch eine große Entscheidungsfreiheit insbesondere bei Prämien und Boni nicht mehr kontrolliert werden können. Das Investment Banking sei zu einer massiven Belastung für die Unternehmenskultur geworden, konstatiert Sattler. Die Bank versäumte es, schreibt sie weiter, parallel zum kräftigen Ausbau des Investment Banking und eines gewinnorientierten Bonussystems “wirksame Kontrollen gegen unlauteres und in einigen Fällen sogar kriminelles Verhalten zu etablieren” (Seite 635). Das wäre mit dem Führungs- und Verantwortungsethos Herrhausens “niemals vereinbar gewesen”.Beim globalen Finanzkapitalismus verortet sie ihn nicht als “einseitigen Promotor”, sondern als Global Player, der nicht allein auf die Märkte vertraute, sondern sich als Angehöriger einer international vernetzten Leistungs- und Verantwortungselite verstand, die sich für eine liberale, marktwirtschaftlichen und politisch-freiheitlichen Prinzipien folgende Welt einsetzt (S. 646).