IM INTERVIEW: ULRICH LÜXMANN, PROVINZIAL NORDWEST

"Großoperation am offenen Herzen"

Finanzchef des zweitgrößten öffentlichen Versicherers fordert bei Solvency II eine lokale Differenzierung

"Großoperation am offenen Herzen"

– Herr Lüxmann, wie beurteilen Sie aktuelle Entwicklungen bei Solvency II?Es scheint langsam wieder etwas Vernunft einzukehren. Solvency II ist in der bisherigen Form hochvolatil und eigentlich nicht praktikabel. Es ist eine volkswirtschaftliche Großoperation am offenen Herzen, die in der aktuellen Kapitalmarktsituation keiner braucht. Ein gewisses Innehalten ist sicher wünschenswert. Wir brauchen robustere Übergangsregeln, und über die wird ja derzeit nachgedacht. Das ist eine positive Entwicklung. Denn eine abrupte Einführung von Solvency II könnte sich durchaus krisenverschärfend auswirken.- Was halten Sie von der angedachten siebenjährigen Übergangsregelung für Altbestände in der Lebensversicherung?Mir ist nicht klar, wie das technisch umgesetzt werden soll. Sie würden ein Kollektiv künstlich splitten. Ich befürchte, dass gäbe technisch ein Tohuwabohu.- Können Sie hinter Solvency II überhaupt noch stehen?Der theoretische Grundgedanke ist nach wie vor richtig und gut – nämlich Risiken sehr differenziert zu bewerten. Aber die Lebenslüge von Solvency II ist, zu glauben, dass wir einen einheitlichen europäischen Markt haben. Doch jeder Versicherungsmarkt – der italienische, deutsche, französische oder britische – tickt ein wenig anders. Der gewaltigen Divergenz, die wir derzeit in der EU haben, muss auch Tribut gezollt werden. Sie können einen griechischen Lebensversicherer derzeit nicht mit einem deutschen über einen Kamm scheren. Der aktuelle Stand des Kompromisses, den ich kenne, sieht so aus: Wir bekommen lokale Varianten. Man macht eine Verbeugung vor der Wirklichkeit und erkennt an, dass die Unterschiede zwischen den Kapitalmärkten und den Produkten immens sind. Der lokale Aspekt muss stärker in den Vordergrund gerückt werden.- Und das soll helfen?Ich mache das mal an einem Beispiel deutlich: Die französische Lebensversicherung ist wie ein Tagesgeldkonto, das kann man jederzeit kündigen. Bei uns gibt es deutliche Kündigungshürden. Aber alles wird über einen Leisten geschlagen. Wir müssen hier in Deutschland die Idee eines Bank Run bei Versicherern durchspielen, der hier unmöglich ist. Lokalisierung ist sinnvoll, da kommt man der Realität näher.- Wie könnte die Lokalisierung aussehen?Die lokalen Aufseher sollten eine stärkere Rolle spielen. So könnten zum Beispiel unterschiedliche Situationen in verschiedenen Märkten und Asset-Klassen durch differenzierte Counter-cyclical Premiums besser abgebildet werden.- Wann rechnen Sie mit einer Scharfschaltung von Solvency II?Das ist für mich unkalkulierbar. Wir haben in dieser Woche noch die dänische Ratspräsidentschaft. Hoffentlich wissen wir in einigen Tagen, wie es mit Solvency II weitergeht. Denn danach kommt Zypern. Die müssen sich erst einmal einarbeiten und haben im Moment auch andere Probleme.- Haben Sie an QIS 6 teilgenommen?Ja, wir haben mit verschiedenen Counter-cyclical Premiums und Zinsstrukturkurven gerechnet und einen bunten Strauß von Ergebnissen bekommen. Die reichen von einer sehr komfortablen Eigenmittelausstattung bis hin zu einer Unterdeckung. Die Volatilität ist riesig. Mit einem solchen Modell können Sie kein Unternehmen steuern. So bleibt Solvency II nichts weiter als eine harte Randbedingung, wie viel Eigenkapital ein Versicherer benötigt.- – – Sie hatten vor einiger Zeit ein internes Modell für Solvency II angekündigt.An dem arbeiten wir nach wie vor, aber wir haben uns gegen eine Zertifizierung durch die BaFin entschieden. Das ist zu aufwendig und verursacht jährlich Kosten in Millionenhöhe. Wir beschäftigen uns mit den inhaltlichen Aspekten eines internen Modells, aber für die Zertifizierung wird unendlich viel Dokumentation verlangt.- In Deutschland durchlaufen aktuell weniger als zehn Versicherer den Zertifizierungsprozess mit der BaFin. Woran liegt das?Mich hat schon überrascht, dass in Südeuropa, wie man so hört, viel mehr Versicherer ein internes Modell zertifizieren lassen. Da gibt es zwei mögliche Erklärungen: Entweder die Unternehmen erfassen ihre Daten viel, viel detaillierter als bei uns und können sie mit weniger Aufwand überliefern, oder die Aufsicht geht anders an die Sache heran und betreibt eine gewisse Form von Arbitrage.—-Das Interview führte Antje Kullrich.