Hilfe zur Selbstentwicklung
Albert LinnerOnline-Redakteur bei der Stiftung Menschen für MenschenDr. Sebastian BrandisVorstandssprecher bei der Stiftung Menschen für MenschenIhre Geschäftsidee hatte Yeshi Asfaw schon lange im Kopf. “Unser Haus hat eine sehr gute Lage direkt am Marktplatz”, sagt die 36-Jährige aus dem kleinen Ort Wogdi in der gleichnamigen äthiopischen Region, rund 580 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Addis Abeba. Schon früher versuchte Yeshi, aus diesem Standortvorteil Kapital zu ziehen. An Markttagen baute sie einen kleinen Stand auf und verkaufte an die aus der Umgebung heranströmenden Menschen Tee, Brot und das säuerliche Fladenbrot Injera, so etwas wie ein äthiopisches Grundnahrungsmittel. Umgerechnet 30 Euro verdiente Yeshi an so einem Markttag, das reichte gerade so zum Leben für sie und ihre Familie. “Das Geld, das wir verdienten, haben wir sofort wieder ausgegeben”, erzählt sie. “Meistens für Essen.”Das war, bevor Yeshi sich 2014 einer Mikrokreditgruppe der Stiftung Menschen für Menschen anschloss. Heute besitzt sie ein gut laufendes Restaurant und ist erfolgreiche Unternehmerin. Dank harter Arbeit, Geschäftssinn und einer kleinen, aber entscheidenden Starthilfe. Eine gezielte Anschubhilfe, getreu der Prämisse “Hilfe zur Selbstentwicklung”, die die Stiftung seit ihrer Gründung im Jahr 1981 in Äthiopien verfolgt.Seit 2013 ist die Stiftung Menschen für Menschen in der Projektregion Wogdi aktiv und verzahnt dort nach dem Prinzip der integrierten nachhaltigen Entwicklung Maßnahmen aus den Schwerpunkten Landwirtschaft, WaSH (Wasser, Sanitär, Hygiene), Bildung, Gesundheit sowie gesellschaftliche Entwicklung und Einkommen. Hier spielen Mikrokredite eine gewichtige Rolle. Sie sind eines der wirkungsvollsten Instrumente zur Beseitigung von extremer Armut – weltweit sowie auch in den Projektgebieten der Stiftung in Äthiopien. Mikrokredite vereinbaren wesentliche Kriterien für den Erfolg von Entwicklungszusammenarbeit.29 093 solcher Kleinstkredite hat die Stiftung Menschen für Menschen seit dem Start des Programms 1997 ermöglicht – mehrheitlich für Frauen. Denn diese sind in Äthiopien nach wie vor in vielfältiger Weise benachteiligt. Frauen sind verantwortlich für die Kinder, den Haushalt, schaffen Wasser und Brennholz heran und helfen bei der Feldarbeit. Über Mitspracherecht oder ein eigenes Einkommen verfügen jedoch die wenigsten, sind stattdessen abhängig von ihren Familien und Männern. “Nur wenn wir die soziale Stellung der Frauen verbessern, wird Äthiopien dauerhaft die Armut überwinden können”, erkannte Karlheinz Böhm, der 2014 verstorbene Gründer der Äthiopienhilfe, früh.Die Rolle der Frau in Äthiopiens Gesellschaft zu stärken, ist ein ausgemachtes Ziel der Stiftung. Die Wirkung der Mikrokredite geht aber noch darüber hinaus: Sie setzen durch die Förderung von Frauen am Rückgrat der Gesellschaft an und stabilisieren diese durch die Erhöhung der Einkommen für die ganze Familie.Bevor Yeshi an einen Kredit für den Aufbau ihres Geschäftes kam, musste sie zunächst einmal selbst sparen. Marginale Beträge, ein paar Birr nur pro Tag, aber genug, um ihre Willenskraft nachzuweisen und dass sie mit Geld umgehen kann. Mit neun anderen Frauen schloss sich Yeshi zu einer Spargruppe zusammen. Diese Spargruppen sind kleine Solidargemeinschaften, deren Mitglieder auch finanziell füreinander einstehen. Fällt eine aus, weil sie beispielsweise krank wird, stehen die anderen für sie gerade und zahlen ihren Anteil zurück. Das stärkt das Verantwortungsbewusstsein und sorgt auch für soziale Kontrolle. Mindestens zehn solcher Gruppen bilden dann eine Mikrokreditvereinigung. Sie wählen eine Leiterin, eine Buchhalterin und eine Schriftführerin und geben ihrer Vereinigung einen Namen. Dann werden sie von der jeweiligen Woreda, also dem zuständigen Verwaltungsbezirk, amtlich anerkannt und bekommen ein eigenes Bankkonto. Die Stiftung Menschen für Menschen bringt das Startkapital als Spende ein – in der Regel 900 000 äthiopische Birr für 150 Frauen, was nach derzeitigem Wechselkurs etwa 25 000 Euro entspricht -, fungiert selbst aber nicht als Bank.Nachdem sie ein halbes Jahr gespart hatte, nahm Yeshi an einem Mikrokredittraining teil. In diesen lernen die Frauen von geschulten Trainern, wie ein Mikrokredit funktioniert, was ein Businessplan ist und wie sie sorgsam mit ihrem Geld wirtschaften. Von Anfang an werden die Kreditnehmerinnen dabei von Sozialarbeitern der Stiftung Menschen für Menschen begleitet.Asegedech Simegn arbeitet schon seit 1999 für die Stiftung und hat in dieser Zeit viele Frauen in die Selbstständigkeit begleitet. Heute ist sie die Leiterin der Abteilung für Gesellschaftsentwicklung in Borena, einer Nachbarprovinz von Wogdi. “Ich sage den Frauen, dass sie das Geld wirklich nur in ihr Unternehmen investieren sollen”, erklärt Asegedech. “Und nicht überlegen, ob sie davon ihren Kindern ein Geschenk kaufen oder für sich neue Schuhe und mögen die noch so günstig sein. Das Geld ist sonst schneller weg, als man denkt.”Yeshi hat sich daran gehalten und ihr Vorhaben zielstrebig verfolgt. 6 000 Birr wurden ihr im ersten Schritt ausbezahlt, umgerechnet etwa 165 Euro. Davon kaufte Yeshi einen Kühlschrank und Getränke und eröffnete ihr Restaurant am Marktplatz. “Ich war mir sicher, dass ich damit Erfolg haben werde”, sagt die Mutter von drei Kindern. Die günstige Lage und Yeshis Geschäftssinn machten sich schnell bezahlt, bald begann das Restaurant, das sie zusammen mit ihrem Mann betreibt, zu florieren. Heute verdienen sie an einem Markttag mit dem Verkauf von Softdrinks, Bier und einer Auswahl an Gerichten mit und ohne Fleisch etwa 14 000 Birr, umgerechnet fast 400 Euro. Ein Vielfaches der Einnahmen vor dem Mikrokredit.Yeshi ist eine von vielen tausend Äthiopierinnen, denen die Stiftung Menschen für Menschen mit einem Mikrokredit zum Aufbau einer gesicherten Existenz verhelfen konnte. Die Kredite werden von den Frauen für Geschäftspläne in allen Lebensbereichen eingesetzt – und sichern wiederum oft einen Teil der Grundversorgung vor Ort. Geschäfte mit Milchproduktion oder Tiermast sorgen zum Beispiel für Nahrungssicherheit. Andere leisten mit dem Verkauf von Seife einen Beitrag zu Hygiene und Gesundheit. So sind die Mikrokredite gerade in integrierten ländlichen Projekten ein Multiplikator der Wirkung der Stiftungsarbeit und gleichzeitig eine Form der Übergabe der Projekte in die Verantwortung der Menschen. Denn für alle Maßnahmen der Stiftung gilt: Sie müssen fundiert und auf Dauer angelegt sein und nach dem Rückzug aus einem Projektgebiet – in der Regel nach 12 bis 15 Jahren – fortbestehen.Der nachhaltige Erfolg der Mikrokredite begründet sich darin, dass Interessierten Geld ganz gezielt zur Verfügung gestellt wird. Anders als bei der Verteilung mit dem Gießkannenprinzip, bei dem Gelder gleichmäßig verteilt werden – ohne zuvor sicherzustellen, ob die Unterstützung auch sinnvoll eingesetzt ist und wirken kann. Die Kredite sind hingegen stark am individuellen Bedarf ausgerichtet. Jede Frau, die einen bekommt, hat bereits ihren eigenen Geschäftsplan erstellt. Gelder versickern auf diese Weise praktisch nicht, die Ausfallraten gehen gegen null. Durch das Bürgschaftsprinzip und den starken sozialen Zusammenhalt stehen die Frauen füreinander ein – auch was die Begleichung der Kredite betrifft. Die Rückzahlquoten liegen bei über 98 % durch alle Projektgebiete hinweg, in der Regel noch höher.Mit einem überschaubaren Zinssatz von 7 % bei einer Laufzeit von zwei Jahren zahlen die Kreditnehmerinnen das Geld ratenweise direkt an ihre jeweilige Kreditvereinigung zurück. Das Geld wird dadurch vermehrt und aus dem Fonds können weitere Folgekredite ausbezahlt werden. Das System trägt sich selbst. Durch diese spezielle Struktur vermehren die Bürgerinnen ihr eigenes gemeinschaftliches Vermögen und nicht das einer Bank.So werden die Kleinkredite als besonders wertvoll empfunden und entsprechend sorgsam behandelt. Asegedech, die Sozialarbeiterin der Stiftung Menschen für Menschen, hat über die Jahre immer wieder beobachtet, dass sich das Verhalten der Frauen verändert. Mit einem klaren Ziel vor Augen und der Möglichkeit, dieses auch zu verfolgen. Durch das Training und den Mikrokredit ändern sich die Frauen. Sie sind sehr viel disziplinierter und sehr pflichtbewusst. Sie übernehmen Verantwortung für sich und ihr Unternehmen. Kleinkredite bieten wirtschaftlich aktiven Armen die Chance, sich selbst ein besseres Leben zu erarbeiten. Darüber hinaus können solche Mikrokredite lokalen Wirtschaften einen nachhaltigen Schub verleihen und etwa neue Arbeitsplätze schaffen.Als Yeshi ihren ersten Kredit zurückgezahlt hatte, nahm sie den nächsten auf, um weiter in ihr Unternehmen zu investieren. Bald konnte sie eine Bäckerin und eine Köchin einstellen und ihr Sortiment erweitern. Zuletzt lieh sie sich 150 000 Birr – rund 4 150 Euro – und ließ davon zwei Gebäudezeilen mit elf kleinen Verkaufsräumen direkt am Markt bauen. Diese vermietet sie an Händler. Mit den Einnahmen aus ihrem Restaurant und der Vermietung der Räume zahlt sie den Kredit nach und nach ab. Einmal im Monat trifft sich Yeshi mit den anderen Frauen ihrer Kleinkreditgruppe. Sie tauschen sich aus über ihre Geschäfte, sprechen über Probleme – und freuen sich über den gemeinsamen Erfolg.