ENDE DER GEWISSHEITEN

Hoffen auf die Kapitalmarktunion 3.0

Das EU-Vorzeigeprojekt, das eigentlich helfen sollte, den Brexit abzufedern, kommt nicht recht vom Fleck

Hoffen auf die Kapitalmarktunion 3.0

Von Andreas Heitker, BrüsselDer Brexit naht und mit ihm auch der Verlust des bislang dominierenden Finanzplatzes in der EU. Um etwas gegen die Abhängigkeit von London zu unternehmen, hat die EU-Kommission schon früh die Weichen gestellt und die bereits 2015 ins Leben gerufene Kapitalmarktunion seit Sommer 2017 noch einmal mit einer Vielzahl weiterer Gesetzesinitiativen und Aktionspläne zu stärken versucht. “Die Kapitalmarktunion war nice to have vor dem Brexit-Referendum – danach war sie ein Must-have”, brachte es Stéphane Boujnah, der CEO von Euronext, kürzlich in Brüssel auf den Punkt.Bisher hat die Europäische Kommission im Rahmen der Capital Markets Union (CMU) 13 Gesetzesvorschläge veröffentlicht plus drei weitere für ein nachhaltiges Finanzwesen. Ende November waren davon gerade einmal drei auch schon durch die Co-Gesetzgeber in Brüssel angenommen worden. Zwar gab es kurz vor Jahresschluss noch einige Verständigungen zwischen EU-Parlament und den Mitgliedstaaten – etwa bei der seit langem ausstehenden Mindestharmonisierung der Insolvenzregime -, aber zahlreiche CMU-Projekte, auch solche mit einem klaren Brexit-Bezug, dürften bis zur Europawahl im Mai nicht mehr abgeschlossen werden. Dies gilt zum Beispiel für die wichtige Stärkung der Finanzaufsichtsbehörden. Fragmentierte MärkteDie CMU in der ursprünglichen Version sollte eigentlich 2019 abgeschlossen werden. Die Version 2.0 wird längst als Prozess begriffen, der aber nur schleppend langsam verläuft, so dass jetzt bereits Forderungen nach einer Kapitalmarktunion 3.0 laut werden.”Es wurde in Sachen Kapitalmarktunion viel versprochen und wenig gehalten”, moniert der CSU-Finanzexperte Markus Ferber, der hofft, dass die nächste EU-Kommission das Thema noch einmal neu anfasst: “Wir müssen die Fragmentierung der Märkte überwinden.” Wobei: Nicht nur die Mitgliedstaaten blockieren aus nationalen Interessen einzelne Dossiers. Auch im EU-Parlament hängen noch Gesetzesinitiativen fest oder werden nicht genügend prioritär behandelt.Die Privatinvestoren und Sparer, deren Gelder ja eigentlich im Zuge der CMU mobilisiert werden sollten, spüren auch mehr als drei Jahre nach dem Start des Projekts keine wesentlichen Verbesserungen. “Die Kapitalmarktunion ist bis jetzt keine Erfolgsgeschichte”, meint auch Jella Benner-Heinacher, die stellvertretende Hauptgeschäftsführerin der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) und Präsidentin der europäischen Verbraucherschutzvereinigung Better Finance, unter Verweis auf die vielen noch offenen Gesetzesinitiativen. Abhängigkeit vom BankkreditBetter Finance hat im abgelaufenen Jahr erneut ein Barometer zum Stand der Umsetzung der Kapitalmarktunion veröffentlicht. Die Ergebnisse sind eindeutig: Bei den untersuchten fünf Schlüsselindikatoren für die CMU-Entwicklung zeigten sich zweimal keine Veränderungen der Lage, zweimal wurde sogar eine negative Entwicklung verzeichnet. Dies betraf sowohl die Beteiligung von kleinen und mittelgroßen Unternehmen (SME) am Kapitalmarkt, was unter anderem an der Zahl der IPOs und der gelisteten Unternehmen sowie ihrer Marktkapitalisierung festgemacht wurde, als auch die der Rendite-Performance von Retail-Investoren, unter anderem im Bereich der Altersvorsorge. Lediglich beim Anteil der Markt- im Vergleich zur Bankfinanzierung zeigten sich leichte Verbesserungen.Dies waren nicht unbedingt die Ergebnisse, die sich die EU-Kommission für ihr Vorzeigeprojekt erhofft hatte. Aber ähnliche Ergebnisse zeigte auch eine umfassende CMU-Bewertung, die der Kapitalmarktverband Association for Financial Markets in Europe (AFME) im Herbst vorgelegt hat (mit Zahlen von 2017). Diese dokumentiert zwar ganz leichte Verbesserungen – aber dass die europäische Wirtschaft sich im Wesentlichen über Banken finanziert, daran hat sich nicht viel geändert. Lediglich 14 % der Unternehmensfinanzierungen in der EU fanden über die Kapitalmärkte statt. In den Vorjahren waren es im Schnitt mit 13 % fast gleich wenig gewesen. In den USA und in Großbritannien sind die Zahlen dagegen deutlich diversifizierter und zeigen eine wesentlich geringere Abhängigkeit vom Bankkredit (siehe Grafik). Die EU-27 hat hier einen deutlichen Nachholbedarf.Der Marktverband AFME legt allerdings auch noch andere Schlüsselindikatoren als Better Finance an, die unter anderem zeigen, dass sich immerhin die Investitionen privater Haushalte in Kapitalmarktinstrumente, die Bereitstellung von Risikokapital sowie vor allem der Anteil der nachhaltigen Finanzierungen in der EU verbessert haben. Auch die grenzüberschreitenden Finanzierungen innerhalb der EU haben sich leicht erhöht.”Das Projekt geht nun in eine entscheidende Phase”, betont AFME-CEO Simon Lewis. “Angesichts einer Vielzahl von Herausforderungen, vor denen die europäischen Kapitalmärkte derzeit stehen – darunter der Brexit, zunehmender globaler Wettbewerb und politische Unsicherheit – ist die Verwirklichung der CMU für das Wirtschaftswachstum Europas wichtiger denn je.” Wer kann London ersetzen?Unabhängig von der Finanzierungsfrage halten Experten sowohl des Internationalen Währungsfonds (IWF) als auch des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und der Europäischen Zentralbank (EZB) die Kapitalmarktunion auch noch aus einem anderen Grund für wichtig: Sie bedeutet nämlich auch eine stärkere Risikoteilung, was helfen könnte, eine künftige Krise deutlich leichter als bisher abzufedern. Das CMU-Projekt hat damit auch eine Stabilisierungsfunktion für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion und trägt so indirekt auch zur Stärkung der Eurozone und der internationalen Rolle des Euro bei. Der IWF schätzt die Finanzmärkte in den USA auch deshalb als stabiler ein, weil es hier einen funktionierenden Kapitalmarkt gibt. Im Rahmen der nächsten Artikel-4-Konsultationen zur Eurozone, so ist beim Internationalen Währungsfonds zu hören, solle daher auch ein ausführlicher Bericht zur Kapitalmarktunion angefügt werden.Dass die bislang dominierende Rolle Londons kein anderer Finanzplatz in der EU-27 eins zu eins ersetzen kann, ist in Brüssel relativ schnell deutlich geworden. Es gilt daher, über die CMU die Kapitalmärkte in vielen Städten und Ländern der EU-27 zu stärken, um so die Last auf viele Schultern zu verteilen. Auch dürfte klar sein, so heißt es in der EU-Kommission, dass der Finanzplatz London auch nach dem Brexit noch eine wichtige Rolle in Europa spielen wird – wenn auch nicht mehr die dominierende, die er heute innehat. Am Finanzplatz Frankfurt wird die Kapitalmarktunion bislang ebenfalls eher als “ein Projekt der vergeudeten Chancen” angesehen (vgl. BZ vom 19. September), aus der viel zu wenig gemacht wird. Auch hier liegt die Hoffnung nun auf Version 3.0.