SERIE: WO VERDIENEN BANKEN NOCH GELD? (12)

Im Retailgeschäft warten Chancen

Börsen-Zeitung, 20.8.2016 Das Privatkundengeschäft ist für deutsche Banken nach wie vor eine Herausforderung - nicht zuletzt aufgrund der niedrigen Zinsen. Es bietet aber auch vielversprechende Chancen, vorausgesetzt, die Banken erhöhen ihre...

Im Retailgeschäft warten Chancen

Das Privatkundengeschäft ist für deutsche Banken nach wie vor eine Herausforderung – nicht zuletzt aufgrund der niedrigen Zinsen. Es bietet aber auch vielversprechende Chancen, vorausgesetzt, die Banken erhöhen ihre Entscheidungs- und Umsetzungsfähigkeit deutlich.Wer sich nach vorne bewegen will, muss wissen, wo er herkommt. So war das Privatkundengeschäft für deutsche Banken vor 25 Jahren durchaus profitabel: Damals waren 4 453 Kreditinstitute am Markt aktiv, sie betrieben knapp 45 000 Filialen und beschäftigten 744 800 Mitarbeiter. Die Bundesrepublik – gerade frisch wiedervereinigt – erwirtschaftete zu diesem Zeitpunkt ein Bruttosozialprodukt (BSP) von umgerechnet 1,59 Bill. Euro, das Pro-Kopf-Vermögen betrug 22 416 Euro, und die Summe der deutschen Bankkredite hatte eine Höhe von 1,65 Bill. Euro. Insbesondere die Hochzinspolitik der Deutschen Bundesbank nach der Wiedervereinigung bescherte Kreditinstituten auf der Einlagenseite ansehnliche Margen.Seitdem ist viel passiert: Bis heute ist das BSP um 91 % gewachsen, das Vermögen pro Kopf hat sich mit 67 316 Euro mehr als verdreifacht, das Kreditvolumen mit 3 251 Mrd. Euro verdoppelt. Im Fokus der Banken standen in den 90ern und 2000ern vor allem das Firmenkundengeschäft, das Investment Banking und der Ausbau der internationalen Aktivitäten. Hier versprachen sich die Kreditinstitute die attraktivsten Wachstumsraten. Die Deutsche Bank beispielsweise steigerte ihre Erträge im Investment Banking von 2002 bis 2010 um 52 %.Das Privatkundengeschäft zählte dagegen in der Regel nicht zu den priorisierten Aktivitätsfeldern. In der Gesamtbranche sank die Zahl der Filialen auf knapp 34 000. Ab Mitte der 90er Jahre gewann das Internet als Transaktions- und Informationskanal im Retailgeschäft rasant an Bedeutung. Viele Online-Anwendungen substituierten nun Serviceleistungen, die vorher in den Filialen erbracht worden waren. Dennoch hat das Internet zunächst nicht zu den oftmals behaupteten tiefgreifenden Veränderungen im Privatkundengeschäft geführt. Die fünf größten Direktbanken erzielen derzeit einen kumulierten Ertrag von etwa 6 % des Gesamtmarktes. Diese Größenordnung entspricht in etwa den normalerweise jährlich zu erwartenden Kundenverlagerungen in der Branche. Hausaufgaben zu erledigenSpätestens seit der Finanzkrise müssen die Kreditinstitute ihre bisherige Priorisierung der Geschäftsfeldaktivitäten kritisch überdenken: Die neuen aufsichtsrechtlichen Verwerfungen haben viele Betätigungen jenseits des Retail Banking im Vergleich unattraktiver gemacht. Zudem bietet das Privatkundengeschäft eben auch bislang ungenutzte Chancen. Um diese wirkungsvoll zu nutzen, sollten Kreditinstitute auf zwei Ebenen aktiv gestaltend tätig werden.Zum einen müssen sie ihr Retailgeschäft an die neuen Marktgegebenheiten anpassen und die notwendigen Hausaufgaben schnell erledigen. Dazu zählt die konsequente Schließung von Filialen – im Schnitt haben die Institute Reduktionen um 20 % bis 25 % für die nächsten Jahre angekündigt. Damit verbunden ist auch ein entsprechender Rückgang der Beschäftigtenzahlen. Diese Maßnahmen sind nur folgerichtig, denn die derzeit zu erwartenden Erträge im Retailgeschäft entwickeln sich seitwärts: Die Boston Consulting Group (BCG) geht in einer Ertragsprognose für den Privatkundensektor bis 2020 nur noch von Kundenerlösen in Höhe von knapp unter 50 Mrd. Euro jährlich aus – damit schrumpfen die Erträge jährlich um rund 0,5 %. Ohne PerspektiveInstitute, die sich allerdings allein auf diese operativen Maßnahmen verlassen, steuern aus dem Rückspiegel heraus. Ein bloßes “Weiter-so” vermittelt keine belastbare und glaubwürdige Perspektive für Mitarbeiter, Kunden und Investoren.Der rapide technologische Wandel eröffnet Kreditinstituten Chancen, ihre Erträge im Retailgeschäft nachhaltig zu steigern und damit aktiv ihre Wettbewerbsfähigkeit und Rentabilität zu verbessern. Netzleistung, Software und Hardware entwickeln sich exponentiell weiter; schon in wenigen Jahren werden Smartphones die Rechenleistungen des menschlichen Hirns übersteigen. Parallel steigt die Bereitschaft der Kunden, neue Technologien zu nutzen. Daraus ergeben sich für Banken drei konkrete Chancenfelder.Erstens: Die Einführung neuer sowie die Optimierung bestehender Preismodelle eröffnet Ertragspotenziale von 3,5 Mrd. bis 5 Mrd. Euro. Banken müssen viel stärker Preismodelle zum Steuern des Kundenverhaltens nutzen und die Preisbereitschaft ihrer Kunden verstehen. Damit kann Pricing sowohl einen Beitrag zur Steigerung der Kosteneffizienz als auch einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung der Ertragsbasis leisten. Gerade bei der Festlegung von Gebühren (z. B. beim Girokonto und auch bei Wertpapieren) eröffnen sich für Retailbanken damit noch deutliche Potenziale. Voraussetzung ist aber ein sehr tiefes Verständnis der eigenen Kundendaten, um tatsächlich Verhaltensmerkmale ablesen zu können. Nur so können Preise für Filialzugang oder Mehrwertdienste analytisch fundiert werden.Zweitens: Eine weitere Chance nutzen Banken, indem sie systematisch in Partnerschaften oder Netze von Partnerschaften investieren. Viele innovative Ideen – insbesondere im Privatkundengeschäft – werden außerhalb der großen Institute generiert. In Summe sind in den vergangenen fünf Jahren allein in Europa über 7 Mrd. Euro Venture Capital in Fintech-Start-ups geflossen. Natürlich werden hier einerseits Leistungen entwickelt, die zu den Retail-Angeboten der großen Institute im Wettbewerb stehen. Aber die Fintechs generieren auch Technologien, die das klassische Privatkundengeschäft befördern können. Dienstleistungen, die bisher aufgrund von Transaktionskosten unmöglich waren, können nun das eigene Leistungsspektrum erweitern. So werden durch “Square” in den USA beispielsweise Kreditkartenzahlungen möglich, die bisher nicht ökonomisch betreibbar waren. Durch gezielte Kooperationen im Fintech-Bereich könnten Banken zusätzliche Erträge von 2 Mrd. bis 3,5 Mrd. Euro realisieren. Wert der Daten erschließenEin drittes Chancenfeld eröffnet die konsequente Nutzung der bereits im Haus vorhandenen Daten: Jeder Bankkunde generiert pro Jahr im Schnitt zwischen 1,2 und 1,4 Megabyte Bestands- und Transaktionsdaten. Durch das Verschneiden dieser Informationen können selbst kleinere Häuser leicht analysierbare Datenpools in Terabyte-Größe für sich nutzbar machen. Die bereits heute verfügbaren Rechnerkapazitäten lassen Datenauswertungen zu, welche über die bloße Auswertung von Produktnutzungen und Ansätze für Produktkäufe komplett hinausgehen. So werden individuelle Produktkonfigurationen, verbesserte Grundlagen für Kreditentscheidungen und automatisierte individuelle Anlage-Tools möglich. Mit steigender Rechnerleistung lassen sich in Zukunft solche Auswertungen noch feiner justieren bis hin zu faktisch digitaler Beratung. In Summe sieht BCG in diesem Bereich zusätzliche Ertragspotenziale von 2 Mrd. bis 3,5 Mrd. Euro.Führenden Häusern wird es gelingen, die skizzierten Chancen zu nutzen und ihr Umfeld aktiv zu gestalten. Voraussetzung dafür ist auch, dass Kreditinstitute zuallererst ihre Managementkultur auf den Prüfstand stellen. Die Erhöhung der eigenen Agilität und die damit verbundene Verbesserung von Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen sind absolut erfolgsentscheidend. Der “äußere Umbau” des eigenen Kreditinstituts entlang neuer Kanäle wird nur dann erfolgreich sein, wenn auch die Organisationsstrukturen deutlich schneller und effizienter werden – also der “innere Umbau” gelingt.—-Zuletzt erschienen: – Unverzichtbares Immobiliengeschäft (19. August)- “Im Schweiße ihres Angesichts” (18. August)- Kundenzufriedenheit als Existenzgrundlage (17. August) —-Holger Sachse, Partner und Managing Director The Boston Consulting Group