Im stillgelegten Kraftwerk virtuell spazieren
Was muss Deutschland auf dem angestrebten Weg zum Wasserstoff-Weltmeister beherrschen, und warum sind digitale Methoden beim Rückbau von Kraft-werken äußerst nützlich? Das erklären Energieexperte Christopher Vagn Philipsen und Peter Liebsch, Spezialist für digitale Planung beim auf den Bau- und Immobiliensektor konzentrierten Planungs- und Beratungsunternehmen Drees & Sommer. Herr Philipsen, Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier vergleicht die Energiewende mit einer “Operation am offenen Herzen der Volkswirtschaft”. Welche Rolle spielt dabei die neue Wasserstoffstrategie?Philipsen: Im Fokus steht, den enormen Energiebedarf der Industrie, allen voran Stahl, Zement und Chemie, mit den Klimazielen zu vereinen. Mit der Denuklearisierung und Dekarbonisierung entfallen mittelfristig Kernkraft und Kohle. Windkraft- und Solaranlagen unterliegen naturgemäß hohen Schwankungen. Mit zunehmender Elektrifizierung gilt es zu lösen, wie sich Strom im großen Umfang speichern und auf Bedarf abrufen lässt. Wie gelangt er beispielsweise vom windintensiven Norden in den industriereichen Süden und Westen? Neben dem Ausbau unserer Stromnetze lautet für viele die Antwort: mit Wasserstoff. Können Sie in einfachen Worten erklären, was hinter der Technologie steckt?Philipsen: Wasserstoff kommt in reiner Form auf der Erde kaum vor. Das Verfahren, um ihn herzustellen, kennen viele aus der Schule. Stark vereinfacht dargestellt: Mit Strom wird Wasser durch Elektrolyse in Wasserstoff und Sauerstoff gespalten. Letzterer kann umweltverträglich in die Umgebung abgegeben werden. Der Wasserstoff wird hingegen als Energiespeicher verwendet, in Form eines gasförmigen oder flüssigen Brennstoffs. So lässt er sich leicht transportieren und bei Bedarf wieder nahezu emissionsfrei zur Strom- und Wärmeerzeugung, als Treibstoff im Verkehrswesen oder als Grundstoff in der Industrie einsetzen. Das klingt in der Theorie erst mal alles gut. In der Praxis sind allerdings noch viele Hürden zu nehmen. Welche sind das?Philipsen: Vor allem stellt sich die Frage, wo die riesigen Mengen an regenerativem Strom herkommen sollen, um grünen Wasserstoff zu erzeugen. Derzeit tragen Wind und Sonne mit etwa 180 Terawattstunden pro Jahr zur gesamten Stromerzeugung in Deutschland bei. Allein der Industriebedarf liegt bei rund 234 Terawattstunden jährlich, was fast der Hälfte unseres Stromverbrauchs in Deutschland entspricht. Wenn die Industrie auf Wasserstoff als einzigen Energieträger umsteigt, erhöht das den derzeitigen Strombedarf, allein für die Herstellung des Wasserstoffes, um ein Vielfaches. Laut der vom Bundeskabinett beschlossenen Wasserstoffstrategie sollen bis 2030 Wasserstoffanlagen mit einer Leistung von 5 Gigawatt entstehen. Zum Vergleich: 1 Gigawatt entspricht der bisherigen Leistung eines Atomkraftwerks. Also ein sportliches Ziel.Philipsen: Ja, hinzu kommen die Kosten für die Anlagen selbst, die Aufwendungen für die Infrastruktur und für den Strom. In Deutschland zählen wir bei den Strompreisen neben Dänemark zu den Spitzenreitern in Europa. Wird Wasserstoff regenerativ erzeugt, überlegt die Politik bereits, ob die Erneuerbare-Energien-Umlage für den Strom entfallen sollte. In Summe werden klimaneutrale Chemie- oder Stahlprodukte aber trotzdem vergleichsweise teuer in der Herstellung werden. Wie sich hier auf dem Weltmarkt Wettbewerbsnachteile vermeiden lassen, ist noch fraglich. CO2-Grenzabgaben oder Schutzzölle, wie etwa für Ökostahl, sind mit den Prinzipien des Freihandels wenig vereinbar. Wo soll also günstiger grüner Strom oder der Wasserstoff herkommen?Philipsen: Am naheliegendsten ist es natürlich, die hiesigen Solar- und Windkraftanlagen massiv auszubauen. Aber selbst dann sind Wasserstoffimporte nötig. Am besten aus Regionen, in denen die besten klimatischen Bedingungen für Solar oder Wind vorherrschen, etwa in Südeuropa oder Nordafrika. Für solche Partnerschaften will die Regierung deshalb 2 Mrd. Euro bereitstellen. Manche befürchten geopolitische Abhängigkeiten und auch, dass sich die Industrie irgendwann dort ansiedeln wird, wo die Wege zur Energiequelle kurz sind. Was sollte bei der Energiewende insgesamt besser laufen?Philipsen: Sinnvoll ist es sicher, künftig widersprüchliche politische Signale zu vermeiden. Hierzu zählte in der Vergangenheit der langwierige Streit über Mindestabstände für Windräder oder über den Ausbaudeckel für Solarenergie ebenso wie die Regulierungshemmnisse beim Einsatz von Power-to-Gas-Anlagen durch Stromnetzbetreiber. Das war oder ist den Investitionen in erneuerbare Energien und der Wasserstofftechnologie sicher nicht zuträglich. Was bedeutet die ehrgeizige Wasserstoffstrategie für Energieversorger oder Netzbetreiber?Philipsen: Wir sehen bei unseren Kunden, EnBW, Uniper, Tennet, 50Hertz, Mainova und auch vielen Stadtwerken, dass sie sich schon sehr lange auf die Energiewende einstellen. Wir begleiten sie beim Ausbau ihrer Strom-, Gas- und Wärmenetze und überlegen gemeinsam mit ihnen, wofür sich zum Beispiel die Standorte stillgelegter Kraftwerke eignen können. Letzteres reicht vom Rechenzentrum über den Kletterpark bis eben hin zur Wasserstofferzeugung. Dafür planen große Stromnetzbetreiber schon heute gemeinsam mit Gasversorgern entsprechende Anlagen zur Stabilisierung der Stromnetze. Und Gasnetzbetreiber prüfen die Nutzung und die Erweiterung ihrer Erdgasnetzinfrastruktur für den Transport von Wasserstoff. Da er dem Gasnetz beigemischt werden kann, ist das ein guter Übergang für die Gasversorger und kann auch langfristig deren Netzinfrastruktur sichern. Herr Liebsch, Stichwort stillgelegte Kraftwerke. Sie planen Bauvorhaben zunächst rein digital. Was hat das mit dem Rückbau von Kraftwerken zu tun?Liebsch: Was den Aufbau extrem erleichtert, ist auch für den Rückbau genial. Um das zu verstehen, muss ich kurz erläutern, wie eine digitale Planung grob abläuft. Wir arbeiten mit Building Information Modeling, kurz BIM. Bevor überhaupt ein Stein auf der Baustelle umgedreht wird, konstruieren wir mit BIM ein digitales Modell des späteren Gebäudes. Das hat bei Bedarf eine Informationstiefe bis ins kleinste Detail. Es umfasst also nicht nur geometrische Daten, sondern genauso sämtliche Angaben wie etwa zu Material oder Brandschutz. Simulieren lassen sich auch sämtliche Termin-, Bau- und Montageabläufe. Im Idealfall können alle Bauakteure im Modell in Echtzeit von überall aus zugreifen und ihre Arbeiten eintragen. Kurzum: Das Gebäude, das entstehen soll, hat also einen Zwilling in der digitalen Welt. Einen solchen Zwilling kann man natürlich auch für ein bereits bestehendes Kraftwerk anlegen, bevor der eigentliche Rückbau startet. Wie erstellen Sie den Zwilling für ein Kraftwerk, das es bereits gibt?Liebsch: Dafür scannen wir mit entsprechenden Geräten das gesamte Kraftwerk. Für Räume, die nicht zugänglich sind, können das auch Roboter übernehmen. Auch entsprechende Messungen sind möglich. Wie ist die Kontamination der einzelnen Räume? Treffen wir auf Radioaktivität, Asbest et cetera? Am Ende erhalten wir ein wirklichkeitsgetreues, virtuelles Modell des Kraftwerks inklusive Schadstoffkataster, das bis auf den Millimeter genau den Ist-Zustand abbildet. In diesem Modell arbeitet das gesamte Rückbauteam, plant die Abläufe und ergänzt es um kritische Informationen. Klingt aufwendig. Was ist der große Vorteil?Liebsch: Es erhöht die Sicherheit für jeden Einzelnen, der später auf der Baustelle arbeitet. Wir können im Kraftwerk virtuell spazieren und uns vor unangenehmen Überraschungen in der Realität schützen. Alle räumlichen oder objektspezifischen Informationen wie Schadstoffkataster, verbaute technische Anlagenteile et cetera sind im BIM-Modell abgebildet. Das erlaubt eine genau getaktete Rückbauplanung sowie eine detaillierte Ausschreibung, Arbeitsvorbereitung und Baulogistik. Zudem lässt sich über BIM der Ist-Stand laufend kontrollieren und als lückenlose Nachweisführung gegenüber Gutachten und Behörden verwenden. Das Interview führte Claudia Weippert-Stemmer.