Thomas Sepp

„In der Inflation droht Unter­ver­sicherung“

Inflation ist das Top-Thema der Wirtschaft. Dies gilt auch für Sachversicherer. Die Allianz-Gesellschaft AGCS warnt vor einer Unterversicherung ihrer Unternehmenskunden.

„In der Inflation droht Unter­ver­sicherung“

Michael Flämig.

Herr Dr. Sepp, die Welt ist im Krisenmodus. Was bedeutet dies für die Versicherer?

Allianz Global Corporate & Specialty hat mehr als 530000 Schadenfälle der Jahre 2017 bis 2021 untersucht. Diese globale Analyse zeigt: Es gibt auch in den Krisen Themenfelder, die traditionell immer eine große Bedeutung hatten und uns in der aktuellen Lage weiterhin begleiten werden.

Welche traditionellen Schäden dominieren?

Wir sehen unverändert große Schäden durch Feuer und Explosionen im produzierenden Gewerbe. Sie sind mit 21% die größte Einzelursache für Versicherungsschäden in Unternehmen. Außerdem nimmt die Bedeutung von Naturkatastrophen mit 15% der Schäden immer weiter zu. Tornados, Stürme und Überschwemmungen stehen dabei oben auf der Liste.

Welcher Typ Schaden bleibt darüber hinaus wichtig?

Die fehlerhafte Verarbeitung und Wartung ist der drittteuerste Schadentyp mit 9% aller Versicherungsschäden. Beispielsweise gibt es Bauschäden durch fehlerhafte Arbeiten, aber auch Fehler beim Design oder der Herstellung von Produkten können versichert sein. Der Gesamtwert aller AGCS-Schäden von 2017 bis 2021 addierte sich auf 88,7 Mrd. Euro.

Im Zeitraum 2013 bis 2018 lag der Wert mit 58 Mrd. Euro noch deutlich niedriger.

Wir konnten diesmal mehr Schäden untersuchen, weil wir die Datenlage in den zurückliegenden Jahren deutlich verbessert haben. Daher lassen sich die aktuellen Ergebnisse nur bedingt mit der früheren Studie vergleichen. Allerdings haben sich tatsächlich die Versicherungsansprüche von Unternehmen in den zurückliegenden fünf Jahren gesteigert. Sach- und Vermögenswerte sind nun höher, die Komplexität der Lieferketten hat zugenommen, und immer mehr Risiken konzentrieren sich an einzelnen Orten, zum Beispiel in von Naturkatastrophen bedrohten Ge­bieten.

Welche neuen Entwicklungen gibt es in diesen Krisenzeiten?

Fünf Gebiete sind besonders relevant: Inflation, Lieferketten, Cybersicherheit, die Folgen des Ukraine-Kriegs und die Veränderungen im ESG-Bereich Umwelt, Soziales und Unternehmensführung.

Wie verändert sich die Lage durch die Rückkehr der Inflation?

Die Inflation treibt die durchschnittlichen Schadenhöhen. Beispielsweise steigen die Baukosten enorm, weil Material und Personal fehlt. Das trägt zur Erhöhung der Wiederherstellungskosten bei und erhöht die Dauer und damit die Kosten von Betriebsunterbrechungen.

Gibt es weitere Folgen der Preiserhöhungen?

Beispielsweise sind professionelle Dienstleistungen etwa bei gerichtlichen Auseinandersetzungen viel teurer geworden. Vor allem aber sind Versicherungswerte infolge der Preiserhöhungen zu niedrig angesetzt. In der Inflation droht Unterversicherung.

Können Sie dies bereits beobachten?

Auf jeden Fall. Bei einem Hotel in den USA, das bei Waldbränden zerstört wurde, war der Wiederbeschaffungswert fast doppelt so hoch wie der angegebene Wert. Aber auch die Werte von Schiffen sind deutlich gestiegen. Die Kompensation, die wir zahlen, kann also höher sein als die Summen, die zur Errechnung des Beitrags zugrundegelegt wurden. Andererseits können auch Kunden Gefahr laufen, im Schadenfall nicht vollständig entschädigt zu werden, weil sie unterversichert sind.

Was ist zu tun?

Wir dringen zusammen mit den Maklern auf Wertüberprüfungen der Kunden, damit sie den veränderten Umweltbedingungen gerecht werden.

Sind dies Spezialfälle?

Derartige Überprüfungen sind aus Sicht der AGCS zunehmend in der Breite notwendig. Firmen, die derartige Dienstleistungen anbieten, sind im Moment ziemlich gefragt.

Wie können Versicherer reagieren, wenn Kunden ihre Werte nicht korrigieren?

Im Versicherungsmarkt wird darüber diskutiert, ob dann spezielle Klauseln wieder in die Versicherungsverträge aufgenommen werden sollten, die das Risiko einer Unterbewertung berücksichtigen.

Es gibt ein Grummeln bei den Unternehmen über die Preiserhöhungen der Vergangenheit. Steigen die Preise nun weiter?

Es sollte im ureigenen Interesse der Versicherungsnehmer sein, die versicherten Werte zu überprüfen. Sonst laufen sie ja mittelfristig in ein Problem hinein.

Aber die Preiserhöhungsdynamik hält offenkundig an. AGCS hat im ersten Quartal die Preise im Schnitt um 11% erhöht.

Das ist richtig. Wir müssen die Inflation in unseren Preisen berücksichtigen. Die Anpassung der Werte kann, aber muss nicht zwangsläufig zu höheren Prämien führen, das lässt sich auch über höhere Selbstbehalte ausgleichen.

Die Aufsicht untersucht, inwieweit Sachversicherer für die Inflation gewappnet sind mit ihren Rückstellungen.

Dieses Themenfeld priorisieren wir hoch. Bei den Schadenrückstellungen planen wir ohnehin Spielraum ein und werden weiter Vorsorge betreiben.

Wie verändern sich die Schäden aus Betriebsunterbrechungen?

Firmen erleiden im Schnitt längere Produktionsausfälle als in der Vergangenheit. So sind die Betriebsunterbrechungsschäden deutlich teurer geworden. Im Schnitt werden nun 3,8 Mill. Euro pro Fall gezahlt. Im Zeitraum 2013 bis 2018 sind es 3,1 Mill. Euro gewesen.

Hat ein Gasnotstand mit Zwangsabschaltung von Produktionslinien eine Folge für Betriebsunterbrechungsversicherungen?

Für Zahlungen aus einer Betriebsunterbrechungsversicherung muss es einen Sachschaden geben. Das Fehlen eines Rohstoffes ist kein versichertes Ereignis.

Es gibt keine Sonderklauseln, die zu Zahlungen in einzelnen Fällen führen können?

Es gibt durchaus Betriebsunterbrechungsversicherungen, die auch ohne versicherten Schaden ausgelöst werden. Dies sind aber Spezialfälle. Im Alltagsgeschäft jenseits eines Gasnotstands sind sogenannte Rückwirkungsschäden in der Versicherung gegen Betriebsunterbrechungen viel wichtiger.

Was ist darunter zu verstehen?

Bei einer gewöhnlichen Betriebsunterbrechung im versicherungstechnischen Sinn kann jenes Unternehmen, das selbst versichert ist, nicht mehr produzieren. Rückwirkungsschäden dagegen treten auf, wenn ein versicherter Konzern nicht mehr fabrizieren kann, weil ein Zulieferer aufgrund eines Schadens ausfällt.

Können Sie Beispiele nennen?

Der Halbleiterengpass der Autohersteller fällt unter derartige Rückwirkungsschäden, die versicherbar sind. Aber auch ein unerwarteter Wintereinbruch in Texas im Februar 2021, der zu großflächigen Stromausfällen, Sachschäden durch Frost und in der Folge zu Betriebsschließungen führte, gehört zu dieser Kategorie. Denn dies hatte Auswirkungen auf viele Firmen, die auf die dort hergestellten Vorprodukte angewiesen waren.

Was ist zu tun?

Am wichtigsten ist es, die Abhängigkeiten in den Lieferketten gut zu verstehen. Dies gilt für den Versicherer, aber auch für das produzierende Unternehmen.

Sind bestimmte Lieferketten einfach nicht mehr versicherbar?

Wir unterscheiden zwischen untergeordneten Zulieferern und jenen Lieferanten, die der ersten Ebene angehören. Bei Tier-2- oder Tier-3-Lieferanten sind wir sehr zurückhaltend, weil die Abhängigkeiten nicht mehr kontrollierbar sind.

Kann die Deglobalisierung das Problem der Rückwirkungsschäden verringern?

Davon gehe ich aus. Wenn die Lieferketten über geringere Distanzen gespannt werden, dann reißen sie auch seltener.

Was verändert sich in der Cyberversicherung?

In unserem Buch ist die Schadenaktivität in den Jahren 2020 und 2021 deutlich gewachsen. Sie hat sich im laufenden Jahr auf hohem Niveau gehalten. Die Frequenz der Schadenereignisse ist gestiegen, und die Kunden sehen Angriffe auf ihre IT-Infrastruktur als sehr hohes Risiko.

Werden Cyberrisiken versicherbar bleiben?

Diese Diskussion wird sehr intensiv geführt. Aus unserer Sicht halten viele Unternehmen die notwendigen Sicherheitsstandards nicht ein, die für ein gutes Schutzniveau unerlässlich sind. Daher nehmen wir einen erheblichen Teil der Anträge, die wir sehen, gar nicht an. Das wird auch künftig eine interessante Frage sein: Welche Voraussetzungen sind zu erfüllen, um das Thema versicherbar zu halten und damit einen Risikotransfer für Unternehmen zu ermöglichen?

Die Versicherer packen das Thema seit zwölf Monaten wesentlich vorsichtiger an.

Der Enthusiasmus ist der Realität gewichen. Es wird intensiver Arbeiten auf Seiten der Versicherer und Unternehmen bedürfen, um Lösungen zu finden. Als Allianz stehen wir zur Cyberversicherung, wie unsere jüngste Partnerschaft mit dem Cyber-Insurtech Coalition zeigt. Aber IT-Sicherheit und Versicherung müssen Hand in Hand gehen.

Wie verändert ESG die Unternehmensversicherung?

Wir sehen im Wesentlichen drei Themenfelder. Erstens gibt es klimawandelbezogene Auseinandersetzungen vor Gerichten. So kann Unternehmen vorgeworfen werden, dass sie ihre klimabezogenen Zusagen nicht mit dem nötigen Nachdruck versehen. In Deutschland gibt es noch weniger Aktivitäten als beispielsweise in den USA, aber die Klimaklagen werden zeitversetzt auch in den europäischen Märkten zu beobachten sein. Greenwashing ist ein weiteres Thema, wie der regulatorische Druck im Assetmanagement zeigt. Drittens wird die Zuliefererhaftung entlang der Wertschöpfungskette eine größere Bedeutung erhalten.

Wie wirkt sich der Ukraine-Krieg auf Versicherer aus?

Kriegsereignisse sind normalerweise in den Policen ausgeschlossen, daher gibt es keine großflächigen Schäden. Der Krieg kommt in drei Themenfeldern trotzdem zum Tragen. In der Luftfahrtversicherung geht es um die in Russland festgesetzten Flugzeuge, die zum großen Teil europäischen Leasinggesellschaften gehören. Dies ist für AGCS nicht relevant. Schäden für die Branche könnte es noch in zwei weiteren Bereichen geben: In den Häfen der Ukraine sind Schiffe festgesetzt, je länger sie festgehalten werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu einem Totalverlust erklärt werden. Außerdem haben manche Unternehmen Kriegsrisiken abgedeckt, indem sie Policen zu politischer Gewalt und Terror zeichneten.

Aus dem Sanktionsregime resultieren keine weiteren Risiken?

Wir führen die Sanktionsprüfung sehr genau durch. Bei AGCS laufen Schadenzahlungen an Unternehmen auf, die auf der Sanktionsliste stehen. Wir reservieren das Geld und legen es auf die Seite, bis die Sanktionen aufgehoben werden.

Das Interview führte

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