In Sorge um gemeinsame Werte
Von Carsten Steevens, HamburgWas bedeutet Gemeinschaft im 21. Jahrhundert? In einer Umbruchzeit, in der, wie die Berliner Soziologin Jutta Allmendinger mahnt, ein Auseinanderfallen der Gesellschaft droht, in der privilegierte Eliten in der Finanzindustrie nach den Worten des britischen Ökonomen John Kay offenbar nicht wissen, was sie tun? Es sind Diagnosen zum Zustand der Gesellschaft und zur Verantwortung des Finanzsektors, die in einer Diskussionsrunde zum Auftakt des 26. Deutschen Sparkassentages, an der sich neben den beiden Wissenschaftlern auch der Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes (DSGV), Helmut Schleweis, beteiligt, zur Sprache kommen. Was heißt Vertrauen?Um die Gemeinschaft sei es “ziemlich schlecht bestellt”, sobald sie über Familie und Freundschaften hinausgehe, urteilt Allmendinger, die Ergebnisse einer neuen Auflage der repräsentativen Studie “Das Vermächtnis” vorstellt, die das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), die Wochenzeitung “Die Zeit” und das unabhängige Sozialforschungsinstitut Infas entwickelt und finanziert haben. Die WZB-Präsidentin spricht von einer Krise des Vertrauens nicht nur in die Politik, sondern auch in gemeinsame Werte und verweist auf eine wachsende Diskrepanz zwischen dem, was man selbst wolle und dem, was man bei anderen wahrnehme. Selbst- und Fremdwahrnehmung gingen etwa in Fragen der Sinnhaftigkeit der Erwerbstätigkeit, der Wichtigkeit von Kindern und des Wir-Gefühls auseinander. “Vertrauen heißt, dass man Akteuren, die man nicht kennt, Redlichkeit unterstellt.” Die Menschen seien offen für Wandel, es brauche aber “helping hands”.Der Wirtschaftswissenschaftler Kay, Gastprofessor an der London School of Economics, kritisiert, dass die angelsächsische Finanzindustrie seit langem nur auf sich selbst bezogen sei und zum Funktionieren der Realwirtschaft wenig beitrage. Keiner verstand, wie bestimmte Produkte funktionieren, erinnert er an die Ursprünge der Finanzkrise, und moniert die wachsende Ungleichheit im Zuge der Einkommensentwicklung. Heute dominiere anders als früher eine Handelskultur mit dem Ziel, Risiken auf jemanden abzuwälzen, der selbst weniger über die Risiken wisse als man selbst. Der Ökonom appelliert an die Finanzindustrie, ihre Daseinsberechtigung für mehr Vertrauen zu verdeutlichen. Sie sei nicht dazu da, damit “Individuen sich die Taschen vollmachen”. Und Menschen arbeiteten auch nicht gerne für Institutionen, bei denen es nur darum gehe, den Wert für Aktionäre zu steigern.Kay fordert eine Ethos-Orientierung im Finanzsektor ein, wobei der britische Wissenschaftler hier auf eigene Kräfte der Institute setzt. Soziologin Allmendinger zeigt sich da weniger zuversichtlich. Eingriffe seien wichtig, wenn es nicht anders gehe. Sparkassenpräsident Schleweis erklärt, notwendig sei eine Regulierung, die Regeln setzt, aber nicht jeden Sachverhalt reguliert. Viel hänge von Haltung ab, Bürokratisierung und Bevormundung brauche man nicht. Er fügt hinzu, unterschieden werden müsse auch zwischen wert- und strukturkonservativ. Werte müssten gelebt, Strukturen gegebenenfalls verändert werden. Was sind relevante Märkte?”Wir kämpfen um ein neues digitales Ordnungsrecht”, sagt der DSGV-Präsident. Relevante Märkte müssten neu definiert werden. Das gebe Menschen Sicherheit. Mit Zweifeln müsse man sich beschäftigen. Die gemeinwohlorientierten Sparkassen seien in einer Zeit gegründet worden seien, als die Gesellschaft Kitt benötigt habe, damit die Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Heute verlören sie die Übersicht, was Populismus begünstige. Schleweis spricht sich für mehr finanzielle und digitale Bildung aus. Da kann ihm Soziologin Allmendinger nur zustimmen.—-Umbruch verlangt Orientierung: Eine große Aufgabe für Gesellschaft und Finanzindustrie.—-