In Tuttlingen schlägt das Herz der Medizintechnik

Ausgangspunkt war die Messerproduktion - Nur kleine Ansätze einer formalen Organisation des Clusters - Zusammenarbeit bei der Aus- und Weiterbildung

In Tuttlingen schlägt das Herz der Medizintechnik

Wer auf der Autobahn A 81 von Stuttgart in die Schweiz fährt, der wird ganz tief in der Provinz darauf aufmerksam gemacht, dass unweit der Straße in Tuttlingen das “Weltzentrum der Medizintechnik” liegen soll. In der 35 000-Einwohner-Stadt Tuttlingen begrüßen den Besucher am imposanten Aesculap-Platz die nicht weniger eindrucksvollen Fassaden historischer und gut gestalteter moderner Werksgebäude von Aesculap. Der Besucher ist im Herzen dieses Weltzentrums angelangt. 400 bis 500 BetriebeDoch eine Firma, auch wenn sie seit über 100 Jahren die Weltmarktführerschaft für chirurgische Instrumente besitzt, macht noch nicht das ganze Weltzentrum aus, das auch medizintechnischer Cluster Tuttlingen genannt wird. Die anderen medizintechnischen Firmen dominieren nicht so sehr das Stadtbild, auch wenn viele von ihnen in den letzten Jahren mit architektonisch ansprechenden Firmengebäuden Flagge zeigen. Es sollen 400 bis 500 Betriebe sein, bei denen der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit in der Medizintechnik liegt – wobei wir schon bei einer der Eigenheiten dieses Weltzentrums sind: Niemand kennt die genaue Zahl der Betriebe, niemand die geografische Ausbreitung des Weltzentrums, das vor politischen oder Kammerbezirksgrenzen nicht haltmacht. Tuttlingen ist zwar der unbestrittene Mittelpunkt dieses Zentrums, das jedoch hat die Stadtgrenzen seit einiger Zeit übersprungen und dehnt sich mittlerweile vom Schwarzwald bis zum Bodensee aus.Die zum nordhessischen Familienkonzern B. Braun Melsungen AG gehörende Aesculap AG ist der älteste und größte “Player” im Tuttlinger Weltzentrum; doch danach kommt, wenn auch mit etwas Abstand, eine weitere Umsatzmilliardärin, die Firma Karl Storz, ebenfalls ein Familienunternehmen, das als Weltmarktführer bei den starren Endoskopen gilt. Es folgen einige mittelgroße Unternehmen, wie der Allrounder KLS Martin, der Endoskopie-Hersteller Henke-Sass, Wolf und die Firma Berchtold, die sich mit Operationsleuchten einen Namen gemacht hat. Es schließt sich danach eine in die Hunderte gehende Zahl von kleinen, ja kleinsten Firmen bis zum Einmannbetrieb an, die hoch spezialisierte Instrumente für den medizinischen Bereich liefern. Jede pocht auf ihre Eigenständigkeit, und doch sind viele miteinander verwoben. Die kleinen produzieren für die großen Hersteller, weil das Instrumentarium der Ärzte immer umfangreicher und differenzierter wird. Doch das Zusammenwirken wird unter der Decke gehalten. Die Geheimnisse von Wirtschaftsunternehmen werden strenger gehütet als die von Staaten – erst recht in Tuttlingen. Die kleinen, mittelständischen, familiengeführten Unternehmen machen das Besondere an diesem Weltzentrum aus. So viele auf einem Haufen gibt es nirgendwo auf der Welt!Tuttlingen war bis ins 20. Jahrhundert hinein eine Stadt der Herstellung und Verarbeitung von Leder und der damit verbundenen Schuhherstellung und ebenso der Produktion von Messern: Letztere hat es in Tuttlingen schon seit dem 16. Jahrhundert gegeben. Die Messerschmiede verkauften ihre Waren auf den Märkten Süddeutschlands und der nahen Schweiz: Wegen ihrer hohen Qualität waren sie immer sehr geschätzt. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts allerdings kamen die Messerschmiede in Schwierigkeiten. Die Tuttlinger Messer verloren Märkte gegen die von Solingen und von anderswo, die näher an den Stahlhütten lagen als die Tuttlinger Messerhersteller.Wie könnte es in Tuttlingen auch anders sein, es war der Gründer von Aesculap, der letztendlich der Medizintechnik oder Chirurgiemechanik, wie sie damals hieß, zum Durchbruch verhalf. Der Tuttlinger Messerschmied Gottfried Jetter (1838 – 1903) war zwar nicht der Erste, der medizintechnische Instrumente herstellte, aber er war der Erste, der sie in großer Zahl produzierte. Als Jetter 1867 seine Werkstatt eröffnete, waren die Zeitumstände günstig. Die Medizin erlebte ihre größten Neuerungen: die Äthernarkose, man erkannte die Bedeutung der Keimfreiheit und bald sollte Konrad Röntgen mit seinen Strahlen auch einen Blick ins Körperinnere ermöglichen. Zudem wurden die Rot-Kreuz-Organisationen aufgebaut und die Sanitätseinheiten der Armeen in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts aufgestellt, und diese mussten ausgerüstet werden.Der Aesculap-Gründer und Präzeptor der Tuttlinger Medizintechnik, Gottfried Jetter, produzierte seine Instrumente in großem Stil und konnte liefern, und zwar in der gleichen, wenn nicht besseren Qualität, weil er seine von den Messerschmieden zu Chirurgiemechanikern avancierten Mitarbeiter zu Spezialisten in einem Fertigungsbereich ausbilden und einsetzen konnte. Jetters Firma hatte nachhaltigen Erfolg und bald alle Konkurrenten weit überflügelt. Sie beschäftigte um 1900 bereits über 1 000 Mitarbeiter. Die Qualitätsprodukte aus Tuttlingen kamen schon vor dem Ersten Weltkrieg im Ausland gut an. Von den USA bis Russland, von Japan bis zum Balkan gingen Bestellungen ein. Hang zum IndividualismusEin Charakterzug der Tuttlinger begünstigte die Etablierung und Ausbreitung des Clusters: Die Tuttlinger sind Individualisten. Sie wollen lieber selbständig arbeiten als unter einem Chef – gleich welchen Ranges – in einer Fabrik. Dieser Hang zum Individualismus ist kennzeichnend für diese Branche in Tuttlingen – früher und heute. Das stetige “Selbständigmachen” und die Ausgründungen von begabten und unternehmungsfreudigen Fabrikarbeitern haben zur Diversifizierung der Branche beigetragen. Die ungeheure Breite der Palette medizintechnischer Instrumente eröffnete vielen Fabrikarbeitern eine Nische, in der sie mit Fleiß und Geschick erfolgreich sein konnten. Sie nahmen ihr Spezialwissen mit in ihre eigene Werkstatt und bauten ein Instrument nach, oft besser als das in der Fabrik. Dass viele Ausgründungen gerade von ehemaligen Mitarbeitern der Firma Aesculap als dem größten Hersteller am Ort vorgenommen wurden, liegt auf der Hand. Die Firma stand somit am Anfang der Instrumentenherstellung und ist der Nukleus des medizintechnischen Clusters Tuttlingen.Fleiß, Beharrlichkeit und der stete Wille, nach vorne zu kommen, zeichnen diese Instrumentenhersteller aus. Hinzu kommt das Bestreben, sich nicht in die Karten schauen zu lassen. Dieses Abschotten, dieses Allein-für-sich-Sein, bis hin zur Geheimniskrämerei, war und ist einer der wesentlichen Bausteine des Erfolgs des heutigen Tuttlinger medizintechnischen Weltzentrums. Man macht nicht offensichtlich, was man herstellt, und schon gar nicht, wie und mit wem man seine Produkte vertreibt. Das ist heute noch genauso wie in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Guter Ruf ist hart erarbeitetDie Tuttlinger haben sich in der Medizintechnik ihren guten Namen hart erarbeitet. Die Tuttlinger punkten mit hervorragender Qualität der Produkte und hoher Zuverlässigkeit bei der Lieferung. Medizinische Koryphäen aus aller Welt reisen in die kleine Stadt an der jungen Donau – sie wohnen während ihres Aufenthalts jedoch bevorzugt im vornehmen und teuren Zürich – und lassen sich passgenau ihr Handwerkszeug von den Tuttlinger Spezialbetrieben in die Hand fertigen.Die Firmen in der bieder wirkenden schwäbischen Kleinstadt haben Kontakte in die ganze Welt, exportieren den größten Teil ihrer Produkte in alle Kontinente und gründen Niederlassungen, Produktions- und Vertriebsfirmen an allen wichtigen Standorten der Branche rund um den Erdball. Hier in Tuttlingen begegnen sich schwäbischer Biedersinn und sichere Weltgewandtheit. Umgekehrt haben sich ausländische Einkaufsfirmen an der Donau niedergelassen, die bei den Hunderten von medizintechnischen Betrieben nach Besonderheiten fahnden, um mit diesen ins Geschäft zu kommen.Dieses Weltzentrum ist aus sich heraus gewachsen, ohne Unterstützung von außen und ungeplant. Es waren vor allem tüchtige, unternehmungslustige, tatkräftige Leute in kleineren, mittleren und größeren medizintechnischen Firmen, die dieses Zentrum geschaffen und es zu seiner heutigen Bedeutung gebracht haben. Dieses medizintechnische Weltzentrum, der medizintechnische Cluster Tuttlingen, ist zu einem Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung von Wirtschaftsgeografen und Volkswirtschaftlern geworden. Auch die Politik hat den Cluster entdeckt und versucht, darauf Einfluss zu nehmen. Trotz des Erfolgs gibt es in diesem Cluster – noch – wenig Gemeinsames. Er ist sehr heterogen zusammengesetzt. Eine formale Organisation wie bei anderen Clustern ist erst in kleinen Ansätzen vorhanden. Viele Tuttlinger Betriebe können sich eine solche Organisation auch gar nicht vorstellen.Vor wenigen Jahren wurde ein Hochschulcampus in Tuttlingen eingerichtet. Medizintechnik ist einer seiner Schwerpunkte. Diese Hochschule könnte in der Zukunft zum Zentrum einer Zusammenarbeit im Bereich Forschung und Entwicklung der einzelnen Player im Tuttlinger Weltzentrum werden, denn immerhin haben sich namhafte medizintechnische Firmen, die sich sonst bewusst aus dem Weg gehen, gemeinsam für die Initiative “Hochschule Tuttlingen” zusammengefunden. Im Bereich Aus- und Fortbildung gibt es deshalb schon das, was einen Cluster ausmacht – Zusammenarbeit. Eigenwilliges GebildeTuttlingen und seine Region werden um diesen recht konjunkturresistenten Cluster, der viele Gewerbesteuermillionen bringt, beneidet. Diese Ansammlung vieler Hunderter medizintechnischer Firmen in der schwäbischen Provinz ist ein höchst eigenwilliges Gebilde, das sich mit den Kriterien der Cluster-Wissenschaftler nicht so recht fassen lässt. Diese Anhäufung von Medizintechnik in der Region Tuttlingen ist, wenn man sie überhaupt als Cluster bezeichnen möchte, somit ein Cluster der besonderen Art.—Von Michael Ungethüm, Ehemaliger Vorsitzender des Vorstands von Aesculap und Wolfgang Kramer, Kreisarchivdirektor Konstanz