Individuelle Prüfung statt formeller Hürden

Börsenreife ist weniger eine Frage von Umsatz und Gewinn - Entscheidend ist das Geschäftsmodell - Offene Türen bei der Mehrländerbörse

Individuelle Prüfung statt formeller Hürden

In der deutschen Gründerszene wird gerne über fehlendes Wachstumskapital geklagt – und in der Tat: Während mittlerweile ein recht gutes Angebot an Frühphasen-Finanzierung vorliegt, mangelt es immer noch erheblich an Kapital für die wichtigen Wachstumsphasen der jungen Firmen, im Fachjargon als Later Stage bezeichnet: Laut Bundesverband deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften (BVK) entfallen in den USA mit 34 Mrd. Euro mehr als die Hälfte der Venture-Capital-(VC-)Investitionen auf diese Phase, in Deutschland sind es dagegen weniger als ein Drittel des Kapitals, das ohnehin in einem weit geringeren Umfang zur Verfügung steht.Andererseits gibt es inzwischen auch hierzulande deutlich mehr junge Tech-Unternehmen, die den klaren Anspruch haben, global zu werden. Immer mehr Gründer wollen den Wachstumskurs durchhalten, ohne sich von Geldgebern frühzeitig aus der Firma herauskaufen oder ihre Anteile verwässern zu lassen. Doch was sie selten im Auge haben, ist ein Börsengang – im Unterschied zu vergleichbaren Unternehmen in anderen europäischen Ländern.Wir haben in den letzten eineinhalb Jahren mit zahllosen Gründern und Vorständen gesprochen: Die meisten glaubten, für einen Börsengang noch längst nicht reif zu sein und waren überrascht über die vergleichsweise offenen Türen bei der Euronext. Das liegt nicht nur daran, dass die Aktienkultur in Deutschland bekanntlich wenig ausgeprägt ist. Für deutsche Jungunternehmer ist der Börsengang ein Stichwort, das jede Menge Respekt einflößt und irgendwie unerreichbar scheint.Hinzu kommt: Die Deutsche Börse mit ihrem Wachstumsunternehmen-Segment Scale legt die Latte für Börsenkandidaten tatsächlich eher hoch. Mindestens drei von fünf Kriterien müssen erfüllt sein: Umsatz von mindestens 10 Mill. Euro, positiver Jahresüberschuss, positives bilanzielles Eigenkapital, eine Mitarbeiterzahl des Emittenten von mindestens 20 Personen und kumuliertes, eingesammeltes Eigenkapital von mindestens 5 Mill. Euro. Ganz abgesehen davon, dass sich auch auf diese Weise Börsenflops nie völlig ausschließen lassen, für manches aussichtsreiche Tech-Unternehmen ist diese Latte schlicht zu hoch. Das gilt erst recht für den Biotech-Bereich, in dem nun einmal über längere Zeiträume oftmals weder Umsätze noch Gewinne erzielt und auch nicht unbedingt 20 Menschen beschäftigt werden.Die Euronext, mit über 1 300 notierten Unternehmen die führende paneuropäische Börse in der Eurozone mit Marktplätzen in Belgien, Frankreich, Irland, den Niederlanden und Portugal, verfolgt hier eine andere Philosophie. Sie sieht ihre ureigenste Aufgabe darin, jungen Tech-Unternehmen europaweit Wachstumskapital zu vermitteln – und zwar durch den Zugang zu internationalen Investoren, die sich in der Regel mit den betreffenden Geschäftsmodellen sowie den damit verbundenen Chancen und Risiken gut auskennen. Allein im BiotechBereich bietet sie Zugang zu rund 580 institutionellen Investoren aus 31 Ländern; US-Anleger halten fast die Hälfte des Kapitals, das in die 54 an der Euronext notierte Biotechs investiert ist.Natürlich muss ein Unternehmen vor einem Gang an die Mehrländerbörse die gesellschaftsrechtlichen Voraussetzungen für ein Initial Public Offering (IPO) ebenso geschaffen haben wie die notwendigen Strukturen für das finanzielle Reporting. Darüber hinaus setzt die Euronext jedoch weniger auf formelle Ausschlusskriterien, denn auf eine individuelle Überprüfung des potenziellen Börsenkandidaten. Börsenreife ist somit weniger eine Frage von Umsatz und Gewinn.Entscheidend bei der Beurteilung der Börsenreife eines jungen Wachstumsunternehmens ist das Geschäftsmodell: Hat es bereits gezeigt, dass es funktioniert, und hat das Unternehmen eine klare USP (Unique Selling Proposition, Alleinstellungsmerkmal)? Ist die Strategie nachvollziehbar, das Wachstumspotenzial überzeugend erklärt und mit Fakten belegt? Zudem braucht es ein professionelles Managementteam, das glaubhaft machen kann, dass es die Wachstumsstrategie auch umsetzen kann: Hat es bereits entsprechende Erfahrung? Ist jede wichtige Funktion kompetent besetzt? Können Chief Executive Officer (CEO) und Chief Financial Officer (CFO) ihre Equity Story dem Kapitalmarkt auch überzeugend vermitteln? Eine gute VorübungWer alle diese Fragen mit einem Ja beantworten kann und auch schon erfolgreich Serie-A- und -B-Finanzierungsrunden mit Wagniskapitalgebern abgeschlossen hat, sollte die Option eines Börsengangs ernsthaft durchdenken. Jeder IPO ist eine Herausforderung, aber auch Verhandlungen mit Wagniskapitalgebern sind bekanntlich kein Sonntagsspaziergang – im Gegenteil, sie sind eine gute Vorübung für den Umgang mit öffentlichen Investoren.Natürlich ist es auch hilfreich für einen gelungenen IPO, wenn das Unternehmen nicht mehr völlig unbekannt ist. Es braucht keinen großen Namen, aber die eine oder andere relevante Publikation sollte schon einmal berichtet haben und zumindest die Branchenbeobachter sollten das Unternehmen kennen – das erhöht die Chance, dass die Medien die News zum Börsengang in den richtigen Kontext setzen und auch positiv begleiten. Steigende VisibilitätDie deutlich höhere Visibilität gehört zu den eindeutigen Vorteilen einer Börsennotiz und ist nicht selten auch ein wichtiger Beweggrund. Die Aktie wird gehandelt, Investoren, Analysten und gegebenenfalls auch Medien sprechen über das Unternehmen, und das zahlt ein auf die Bekanntheit der Marke. Mehr noch, die damit einhergehende Transparenz weckt Vertrauen und erhöht die Chance, als relevanter und seriöser Marktteilnehmer wahrgenommen zu werden. Das ist nicht zuletzt von Vorteil, wenn das Unternehmen auch international wachsen will.Zwar tut sich mancher Unternehmer erst einmal schwer mit der Vorstellung, seine Zahlen und seine Strategie offenzulegen – in diesem Zusammenhang hört man oft auch den Einwand, dann könne einem die Konkurrenz zu leicht in die Karten schauen. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass man die wirklich relevanten Geschäftsgeheimnisse sowieso nicht im Geschäftsbericht nachlesen kann.Klar ist allerdings auch: die eigentliche Investor-Relations-(IR-)Arbeit beginnt nach dem IPO, mitsamt umfänglicher Folgepflichten. Dieser Aufwand ist nicht zu unterschätzen. Und wenn das Management den Kapitalmarkt auch künftig beanspruchen möchte, um seine Wachstumsziele zu erreichen, sollte es den Dialog mit Investoren und Analysten keinesfalls nur als lästige Pflichtübung begreifen.Damit sich die Börsenaspiranten frühzeitig mit den Herausforderungen und Chancen eines Börsengangs vertraut machen können, setzt die Euronext auf systematisches Coaching. Nicht von ungefähr erfreut sich das seit September diesen Jahres erstmals auch in Deutschland, Italien, Spanien und der Schweiz angebotene Börsencoaching-Programm “TechShare” mit europaweit 135 Teilnehmern auch hierzulande regen Zuspruchs: 23 Tech-Unternehmen aus so unterschiedlichen Bereichen wie zum Beispiel Biotechnologie und E-Commerce treffen sich bis Juni 2019 über zehn Monate regelmäßig mit erfahrenen Kapitalmarktpartnern, um alle relevanten Fragen zu diskutieren. In Deutschland sind dies die Investmentbanken Bryan Garnier, Oddo BHF und Allinvest, die Wirtschaftsprüfer Crowe Kleeberg und Grant Thornton, die Anwaltskanzleien DWF und Jones Day und sowie die IR-Agenturen Advice-Partners und IRoN. Kostenloser SchnupperkursDie 23 ausgewählten deutschen Teilnehmer befinden sich in ganz unterschiedlichen Phasen ihrer Entwicklung – vom Start-up, das noch kaum Umsätze erzielt, bis zum reifen Unternehmen. Im Durchschnitt erzielen die Unternehmen 14 Mill. Euro Umsatz und haben bereits rund 18 Mill. Euro an Eigenkapital eingesammelt. Für sie alle bietet der kostenlose Schnupperkurs mitsamt zweier Präsenzveranstaltungen an europäischen Business Schools, darunter der HEC in Paris, auch noch einen weiteren Mehrwert: Ganz nebenbei entsteht grenzüberschreitend ein Netzwerk von Tech-Start-ups, Vertretern ihrer Peergroups aus anderen Ländern und Akteuren der Finanzgemeinde. Man lernt sozusagen auf europäischer Ebene voneinander, künftig sicher auch von den Börsengängen der anderen.—-Sebastian Grabert, Einer der beiden Deutschland-Repräsentanten der Euronext