ANSICHTSSACHE

Industrie 4.0 krempelt die Unternehmensfinanzierung um

Börsen-Zeitung, 27.11.2015 Nur wenige Themen beschäftigen die gewerbliche Wirtschaft in Deutschland derzeit so intensiv wie die "Industrie 4.0". Angesichts einer Fülle von Schlagworten wie Big Data, Internet der Dinge, sich selbststeuernde,...

Industrie 4.0 krempelt die Unternehmensfinanzierung um

Nur wenige Themen beschäftigen die gewerbliche Wirtschaft in Deutschland derzeit so intensiv wie die “Industrie 4.0”. Angesichts einer Fülle von Schlagworten wie Big Data, Internet der Dinge, sich selbststeuernde, cyberphysische Systeme, Smart Factory sind die Konsequenzen der jüngsten industriellen Revolution noch gar nicht vollständig absehbar. Fest steht jedoch: Durch den Einfluss der Digitalisierung verändern sich Geschäftsmodelle, Produkte und Leistungen sowie vor allem die Prozesse in den Unternehmen so gravierend wie seit Jahrzehnten nicht mehr.Was bedeutet dieser Umbruch für die Unternehmensfinanzierung, lautet doch die Praxisformel “Finance has to fit to the business”? Und was verändert sich für die Kreditinstitute, die im bankdominierten deutschen Finanzsystem den Löwenanteil der externen Unternehmensfinanzierung bereitstellen? Ein sinnvolles Gerüst zur Beantwortung dieser Fragen geben die drei zentralen Parameter, die das Kreditrisiko aus Sicht einer Bank beschreiben. Um mögliche Verluste zu prognostizieren, muss die Probability of Default (PD, Ausfallwahrscheinlichkeit) mit dem Loss Given Default (LGD, Verlustquote) und dem Exposure at Default (EAD, ausstehender Kreditbetrag) multipliziert werden.1. PD: Die Digitalisierung der industriellen Wertschöpfungsketten führt zu einer wesentlich stärkeren inner- und überbetrieblichen Vernetzung – häufig unter Einbindung von innovativen Start-ups -, wie etwa das Technologiefeld “Autonomes Fahren” deutlich macht. Die Intensivierung der unternehmensübergreifenden Kooperationen von Wertschöpfungspartnern wirft die Frage auf, worauf sich die Bonitätseinschätzung im Rahmen des Bankenratings künftig beziehen soll. Die klassische Unternehmensfinanzierung wird nämlich immer mehr zur Projektfinanzierung. Natürlich wird es nach wie vor einen Bodensatz der Finanzierung für das Working Capital des einzelnen Unternehmens geben müssen. Größere Investitionen werden aber zunehmend im Netzwerk mehrerer Unternehmen getätigt, deren Abhängigkeit von Konstanz und Qualität der Partner steigt. Für den Erfolg des Projekts und damit die Fähigkeit zur Zahlung der Kreditverpflichtungen ist damit nicht mehr nur ein einzelner Spieler, sondern das Geflecht der Beteiligten – mit zum Teil unterschiedlichen Bonitäten – verantwortlich. Was zuvor als Sonderfall bei der Finanzierung großer Infrastrukturvorhaben in der Energieerzeugung oder bei Verkehrswegen galt, wird immer häufiger anzutreffen sein: Das Projektrating entkoppelt sich vom Unternehmensrating.2. LGD: Die Verlustquote wird vor allem beeinflusst durch die Werthaltigkeit der Sicherheiten, die Kreditverträgen zumindest im Mittelstand vielfach noch zugrunde liegen. Hier führt Industrie 4.0 zu zwei Veränderungen: Zum einen werden die Unternehmensinvestitionen im Zuge der Digitalisierung weniger durch klassisches Anlagevermögen, sondern immer mehr durch immaterielle Assets wie insbesondere Software und Patente, aber auch Betreuungs-, Pflege- und Ausbildungsaufwand usw. geprägt, die vielfach so unternehmensspezifisch sind, dass sich die Berechnung von Beleihungswerten und -grenzen kaum auf allgemein akzeptierte “Preislisten” wie bei Commodities stützen kann. Zum anderen führt der zuvor angesprochene Vernetzungstrend dazu, dass “Stand-alone-Bewertungen” von Teilen eines größeren Investitionsprojekts wenig tragfähig sind.3. EAD: Trifft die These zunehmender Vernetzung zu, dann werden die Investitionsvolumina und damit auch die für die beteiligten Unternehmen notwendigen Kreditbeträge steigen. Zudem ist zu erwarten, dass sich die Projektlaufzeiten speziell im Übergangsprozess zur “Industrie 4.0” verlängern, da weitreichende strukturelle Veränderungen der (Beschaffungs-, Produktions- und Absatz-) Prozesse erfolgen. Beide Tendenzen führen zu steigenden Eigenkapitalanforderungen bei denjenigen Banken, die einen aufsichtsrechtlich genehmigten internen Ratingansatz verwenden. Denn dort bedeuten höhere Kreditbeträge und längere Laufzeiten Mehrbelastungen mit regulatorischem Eigenkapital. Mehr FinanzkommunikationAuf Unternehmensseite gewinnt durch diese Veränderungen die Qualität der Finanzkommunikation an Bedeutung, bei der unsere regelmäßigen Studien schon seit langer Zeit Nachholbedarf speziell im Mittelstand identifizieren. Die vergleichsweise leichte Kreditverfügbarkeit der letzten Jahre hat die dort anzutreffenden Defizite eher noch verstärkt. Die wichtigste Hemmschwelle für mehr Transparenz sind noch immer Ängste, der Konkurrenz zu viel Informationen preiszugeben, Banken eventuelle Abweichungen gegenüber den Planungen erklären zu müssen oder Dritten zu zeigen, wie erfolgreich man ist. Doch eine schlechte Finanzkommunikation hat zur Folge, dass sich die Anforderungen der Kapitalgeber an die Informationen und deren formale Aufbereitung drastisch erhöhen.In Zeiten erhöhter technologischer Unsicherheit muss für ein gutes Rating noch aktiver informiert werden. Dabei sollten vor allem die Veränderungen des Geschäftsmodells durch die Digitalisierung erläutert, unterschiedliche Zukunftsszenarien durchgespielt und wichtige Innovationen bei den Produkten oder in den Abläufen des Unternehmens vorgestellt werden, um den Banker so weit wie möglich durch die spezielle unternehmerische Brille sehen zu lassen.Spiegelbildlich verändern sich Anforderungen an die Risikomanager bei der Weiterentwicklung der Ratingverfahren sowie die Firmenkundenbetreuer der Banken. Um die Marktfolge mit den richtigen Informationen zu versorgen, ist eine höhere Expertise mit Blick auf die digitalisierte Industriewelt erforderlich. Somit wird “Industrie 4.0” nicht nur die Realwirtschaft revolutionieren, sondern auch das Kreditgeschäft!Prof. Dr. Stephan Paul ist Inhaber des Lehrstuhls für Finanzierung und Kreditwirtschaft an der Ruhr-Universität Bochum.In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.——–Von Stephan PaulIndustrie 4.0 wird nicht nur die Realwirtschaft revolutionieren, sondern auch das Kreditgeschäft.——-