IM GESPRÄCH: NIKOLAI DÖRDRECHTER

Insurtechs sollen Industrieversicherung aufmischen

Geschäftsführer der Policen-Direkt-Gruppe sieht erheblichen Spielraum auch für Preissenkungen - Es fehlt noch Branchenexpertise

Insurtechs sollen Industrieversicherung aufmischen

mic München – Insurtechs können auch das Geschäft der Versicherer mit sehr großen Unternehmen angreifen und die Industrieversicherung teilweise effizienter als die etablierte Konkurrenz betreiben. Dieser Überzeugung ist Nikolai Dördrechter, der als Geschäftsführer die Policen-Direkt-Gruppe leitet und darüber hinaus in den Bereich der technologieorientierten Neugründungen aus der Finanzsparte (Fintechs und Insurtechs) investiert. “Die Industrieversicherung ist zwar komplexer als das Privat- oder Gewerbegeschäft”, räumte er im Gespräch mit der Börsen-Zeitung ein: “Aber es kann ein viel größerer Kundennutzen erzielt werden als im Kontakt mit Privatkunden.” Denn es bestehe ein erheblicher Spielraum für die Reduzierung der Komplexität in der Industrieversicherung, die auch Preissenkungen ermöglichen werde. Viel manuelle ArbeitDamit widerspricht Dördrechter dem Branchenkonsens, dem zufolge aufgrund des Preiskampfes der vergangenen Jahre die Industrieunternehmen von sehr günstigen Konditionen profitieren. Dies sei zwar aus heutiger Sicht richtig, sagte der Insurtech-Experte: “Es verkennt jedoch den Umstand, dass man als Kunde viele Ineffizienzen mitbezahlt.” Der Anteil manueller Arbeit sei sehr hoch, oft werde direkt nach dem Abschluss der meist einjährigen Verträge mit der Arbeit am nächsten Abschluss begonnen: “Der Kunde trägt diese Kosten letztlich mit.” Wenn es einem Insurtech gelänge, mit neuen Technologien mehr Transparenz in den Prozess zu bekommen sowie die notwendigen Informationen verfügbar und nachvollziehbar zu machen, dann entstände echter Mehrwert für den Kunden: “Dies wäre ein Quantensprung.”Die heutigen Insurtechs sind nach Beobachtung von Dördrechter jedoch für eine derartige Aufgabe kaum gerüstet. Die jungen Unternehmen, die die Branche mit großem Technologieeinsatz umpflügen wollten, operierten bis dato häufig wenig professionell. So sei regelmäßig zu beobachten, “dass man mit fremdem Geld am lebenden Objekt lernt, dass Dinge nicht funktionieren”, erläuterte Dördrechter, der sich intensiv mit den Finanzierungsmodellen von Insurtechs beschäftigt hat. Zweite Welle der InsurtechsIn einer nun folgenden zweiten Welle rechnet Dördrechter jedoch mit professionellen Neugründungen, die durch echte Versicherungsexperten verstärkt würden. Dann könnten Insurtechs die Industrieversicherung auch besser verstehen, die durch das Zusammenspiel vieler Akteure wie beispielsweise Inhouse-Makler oder zusätzliche externe Experten gekennzeichnet sei.Insurtechs könnten Dördrechter zufolge bei Versicherungsprodukten, im Vertrieb und in Versicherungsabläufen neue Geschäftsmodelle entwickeln. So hätten etablierte Versicherer weder im Schutz gegen Cyberrisiken noch bei der Abfederung der Folgen des Klimawandels zwingend einen Vorteil. Aber auch im Vertrieb gebe es Angriffspunkte für Online-Makler, obwohl die Industrieversicherung nach allgemeiner Auffassung sehr komplex sei. Es könnten aber bestimmte Bausteine von Versicherungsprogrammen sehr wohl über Ausschreibungsplattformen angeboten und sogar auf Vergleichsplattformen dargestellt werden: “Das kann auf jeden Fall gelingen.” In der Gewerbeversicherung gehe der Trend in diese Richtung.Insurtechs könnten die Vertriebsstrukturen auch an anderer Stelle verändern, erklärte Dördrechter. So seien Industrieunternehmen mit den Makler-Angeboten von Online-Versicherungsakten nicht vollständig zufrieden. Denn die globalen Konzerne könnten mit diesen Tools häufig nicht transparent darstellen, für welche Risiken weltweit Versicherungen existierten. Das Erfassen des Value-at-Risk sei daher immer noch vielfach ein manueller Prozess. Dies gelte auch für das Auswerten vieler Verträge, die ein Unternehmen schließe: “Da steckt ein großer Werthebel drin.” Beispielsweise ist laut Dördrechter vorstellbar, dass man aus allen Mietverträgen, die ein weltweit tätiger Großkonzern hat, automatisiert die Daten extrahiert. Dann könne man effizient erkennen, welche relevanten Risiken in den Verträgen steckten, die vielleicht abgedeckt werden müssten: “Das wäre ein spannender Anwendungsfall.” Attraktiver RisikotransferInsurtechs, die auf die Auswertung von Daten spezialisiert seien, könnten auch im Kern des Versicherungsgeschäfts Fuß fassen. So biete die Industrie 4.0 beispielsweise die Möglichkeit, aus Maschinenlaufzeiten die Ausfallrisiken zu errechnen und für den Versicherungsschutz zu nutzen. Ein weiterer Ansatzpunkt: die vertraglichen Obliegenheiten aller Versicherungspartner per Blockchain so zusammenzuschalten, dass diese permanent und in Echtzeit erkennbar blieben. So lasse sich Vertrauen aufbauen und Streit vermeiden, der häufig entstehe, wenn die Nichteinhaltung von Verpflichtungen aus der Police im Schadenfall retrospektiv aufgedeckt werde.Perspektiven bietet Dördrechter zufolge auch der Risikotransfer. Heute können beispielsweise Dokumente zu Anleihen, mit denen Versicherer ihre Naturkatastrophenrisiken am Kapitalmarkt platzierten, mehrere hundert Seiten umfassen: “Da verdienen die Anwälte hervorragend.” Ziel von Insurtechs könne dagegen sein, Industrieversicherungen für eine breite Investorenschicht zeichenbar zu machen. Das Start-up Ledger Investing ziele in diese Richtung: “Das könnte dazu führen, dass bisher nicht versicherbare Risiken künftig abgesichert werden können.” Dördrechter hält das Feld für so interessant, dass er Vorstudien für eigene Projekte fertigen lässt.