DIE EUROPÄISCHEN KAPITALMÄRKTE IM FOKUS

IWF sieht EU-Kapitalmarktunion kritisch

Umsetzung hakt - Konkrete Schritte im Bereich Transparenz, Regulierung und Insolvenzregeln vorgeschlagen - Gefahrenherd Brexit

IWF sieht EU-Kapitalmarktunion kritisch

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat ein ernüchterndes Zwischenfazit zur europäischen Kapitalmarktunion gezogen. Noch immer gebe es eine starke Bankenabhängigkeit in der EU und zu wenig integrierte nationale Märkte. Der neuen EU-Kommission macht der IWF zahlreiche Verbesserungsvorschläge.ahe Brüssel – Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat eine immer noch mangelhafte Integration der europäischen Kapitalmärkte kritisiert und der EU-Kommission konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der 2015 ins Leben gerufenen Kapitalmarktunion vorgeschlagen. Den offiziellen Aktionsplan der Brüsseler Behörde für diese Union bezeichnete der IWF in einer gestern vorgestellten neuen Studie zwar als “kohärent”. Dennoch gebe es gemischte Fortschritte bei der Umsetzung.Dies lasse auch “eine Lücke zwischen der unterstützenden politischen Rhetorik der Mitgliedstaaten und ihrer Handlungsbereitschaft erkennen”. Die Verwirklichung der Kapitalmarktunion setze aber auch den politischen Willen voraus, den Widerstand von Interessengruppen zu überwinden. Fehlender politischer WilleDer IWF sieht drei wesentliche Hürden dafür, dass es eine stärkere grenzüberschreitende Vernetzung der EU-Kapitalmärkte gibt: fehlende Transparenz, eine ungleiche regulatorische Qualität in den einzelnen Mitgliedstaaten sowie mangelhafte Insolvenzregeln. Dies führt der Analyse des Währungsfonds zufolge dazu, dass Europas Kapitalmärkte derzeit relativ klein sind, was wiederum zu einer Abhängigkeit von Banken und einer scharfen Trennung entlang nationaler Grenzen führt.Der IWF verwies darauf, dass etwa 40 % der Ersparnisse der EU-Haushalte heute als Bankguthaben gehalten würden. In den USA seien es nur 10 %. Nur 30 % der Verbindlichkeiten von Nichtfinanzunternehmen seien Wertpapiere. Und mehr als die Hälfte des Vermögens langfristiger Anleger in der EU seien inländische Forderungen. Dies führt der Studie zufolge unter anderem zu ungleichen Wettbewerbsbedingungen bei den Finanzierungskosten der Unternehmen. In einigen Ländern des Euroraums müssten diese bis zu 250 Basispunkte mehr für Kredite bezahlen als Wettbewerber aus anderen Staaten. Bestimmten Arten von Firmen – vor allem Neugründungen mit weniger Sicherheiten – hätten zudem Finanzierungsprobleme.Die Weiterentwicklung und stärkere Integration der Kapitalmärkte würden nach Ansicht des Währungsfonds “eine gesunde Vielfalt der europäischen Finanzen unterstützen”. Und dazu gehören nicht nur das Erschließen einer breiteren Investorenbasis für Unternehmen, ein besserer Zugang zu Risikokapital oder die erweiterten Möglichkeiten für Sparer, ihre Portfolios zu diversifizieren, sondern auch die Stärkung der Widerstandsfähigkeit des gesamten Finanzsystems. Abschied von London Der Zusammenhang zwischen vernetzten Kapitalmärkten und der Resistenz gegenüber Schocks sei allgemein anerkannt, hieß es. Heute reagiere unter anderem der Konsum in der EU viermal empfindlicher auf lokale wirtschaftliche Schocks als in den 50 US-Bundesstaaten.Dass die EU-Kommission jetzt dringend bei der Kapitalmarktunion nachlegen sollte, begründet der IWF auch mit dem anstehenden Brexit. Denn der Abschied des Finanzplatzes London aus der EU werde die EU-Kapitalmärkte insgesamt verkleinern, einige europäische Netzwerkverbindungen stören, die Marktliquidität verringern und die Transaktionskosten erhöhen. Da Finanzdienstleister bestimmte Aufgaben von London in die verbliebene EU verlagerten, müsse die Kapazität der Aufseher und der Finanzinfrastruktur verbessert werden.Zu den konkreten Vorschlägen des IWF an Brüssel gehört unter anderem eine transparentere Berichterstattung der Emittenten. Diese sollte nach Ansicht des Währungsfonds zentralisiert, standardisiert und fortlaufend erfolgen, wobei die EDGAR-Datenbank (Electronic Data Gathering, Analysis and Retrieval) der US-Aufsichtsbehörde SEC ein Vorbild sein könnte. “Die Einrichtung einer zentralen Berichterstattung würde eine wesentliche Änderung des Berichtsrahmens in Europa bedeuten und wäre ein Prozess, kein Ereignis”, erklärte der IWF.Derzeit sei die Berichterstattung in der EU noch nach nationalen Gesichtspunkten fragmentiert. Ein erster Schritt wäre nun, die EU-Marktaufsichtsbehörde ESMA damit zu beauftragen, die in nationalen Registern gesammelten Informationen auf eine zentrale Plattform zu stellen. In einem zweiten Schritt müssten die Emittenten ihre Abschlüsse direkt an die ESMA übermitteln. Zuletzt müssten noch vergleichbare Rechnungslegungsstandards gewährleistet werden. ESMA sollte gestärkt werdenAuch wenn die europäischen Finanzaufsichtsbehörden (ESAs) gerade erst neue Zuständigkeiten erhalten haben: Nach Ansicht des IWF sollten die Befugnisse und Aufgaben der ESMA noch einmal selektiv erweitert und durch neue Ressourcen und rechtliche Reformen gestärkt werden. “Es sollten Möglichkeiten geprüft werden, die aufsichtsrechtlichen Konvergenzinstrumente der ESMA zu verbessern, um einen starken und einheitlichen Anlegerschutz in der gesamten EU zu gewährleisten”, hält der Bericht fest.Dazu zählt der IWF auch die weitere Stärkung der Führungsstruktur der Behörde, beispielsweise durch die Einführung eines unabhängigen Executive Board mit Vollzeitmitgliedern, der auch Entscheidungen im Zusammenhang mit der Konvergenz von Regulierung und Aufsicht treffen kann. Dies sei wichtiger im Schatten des Brexit, der wahrscheinlich zu einem EU-Kapitalmarkt mit mehreren Zentren führen werde. Die Autoren warnen zudem vor einem Wettbewerb zwischen den nationalen Gerichtsbarkeiten, der zu aufsichtsrechtlicher Arbitrage, also zu einem Unterbietungswettlauf der Länder führen könne.Weitere Vorschläge des Währungsfonds an die nächste EU-Kommission betreffen unter anderem die Verfahren zur Quellensteuerrückerstattung, die über digitale Technologien verbessert werden sollten, sowie das gerade erst eingeführte PEPP-Produkt, also das EU-weite Altersvorsorgeinstrument. Dieses sollte demnach noch einmal überarbeitet werden, um eine sinnvolle Portabilität zu erreichen.Als wesentliche Schwachstelle in der gegenwärtigen Kapitalmarktunion brandmarkt der Währungsfonds die schwachen Insolvenzregeln und die Schuldenabwicklung. Diese seien “ein wesentliches Integrationshindernis”. Fortschritte könne die Festlegung von EU-Mindeststandards für Insolvenzverfahren von Unternehmen bringen. Eine zentrale Herausforderung bestehe darin, gemeinsame EU-Standards für die Rangfolge der Forderungserfüllung zu vereinbaren.Nach Einschätzung des Währungsfonds ist nicht nur eine lebendige Kapitalmarktunion, sondern auch eine gut funktionierende Bankenunion nötig, um eine wirklich integrierte Finanzunion in Europa zu erreichen. Die Kapitalmarktunion müsse das Bankwesen ergänzen und nicht verdrängen, stellte der IWF klar. Letztendlich müsse eine weitere Integration allerdings auch mit finanzpolitischer Verantwortung und Strukturreformen in den EU-Mitgliedstaaten einhergehen.