Kafka und die Compliance
Je mehr Pferde Du anspannst, desto rascher geht’s – nämlich nicht das Ausreißen des Blocks aus dem Fundament, was unmöglich ist, aber das Zerreißen der Riemen und damit die leere fröhliche Fahrt.Franz Kafka, Die Zürauer Aphorismen, Frankfurt, 2006, S. 45Das Bild des Dichters Franz Kafka ließe sich auch in die ewige Handwerkerweisheit “Nach fest kommt ab!” übersetzen. Eine Umfrage des DVFA unter mehr als 150 Investment Professionals zum Thema Kulturwandel und Compliance zeigt unerwartete Parallelen von Finanzindustrie, Literatur und Handwerk. Die Quintessenz: ein echter Kulturwandel ist bislang ausgeblieben. Die Ursache: zu kleinteilige Compliance und zu wenig Ethik.Die Aufgabe ist klar erkannt: Vier von fünf Investment Professionals (Assetmanager, Finanzanalysten, Banker) sind der Meinung, dass ein Kulturwandel in der Finanzindustrie erforderlich ist. Allerdings stimmen auch 80 % der Befragten der Aussage zu, dass die Finanzindustrie durch mehr Regeln nicht sicherer gemacht werden könne. Ebenso stimmen 60 % der Befragten der These zu, dass Compliance immer mehr zur Chiffre für ein rein formalistisches Denken werde, das sich mit den konkreten Inhalten viel zu wenig auseinandersetze, um Risiken effektiv steuern zu können. Kurzum: Die zahlreichen Skandale, die die Finanzindustrie und nun wohl auch die Automobilindustrie in den letzten Jahren immer wieder erschütterten, haben auch unter den Beschäftigten der Finanzindustrie zu der Überzeugung geführt, dass etwas Grundsätzliches nicht stimmt und es prinzipieller Änderungen bedarf. Schwieriger KulturwandelDie bisherigen Initiativen von Regulatoren und Finanzinstituten werden jedoch als nicht überzeugend angesehen: “Wir brauchen einen Kulturwandel, aber er gelingt noch nicht” – so in etwa lautet die von der überwiegenden Mehrheit geteilte Bewertung des aktuellen Befunds. Wie lässt sich dieser Befund erklären?Außenstehenden mag die Lösung einfach erscheinen: Wer den Teich trocken legen will, darf bekanntlich nicht die Frösche fragen. Regulierung und Compliance könnten dementsprechend von Bankern gar nicht positiv bewertet werden. So einfach und einleuchtend dieser Erklärungsansatz zunächst erscheinen mag, so sehr verfehlt er die Wirklichkeit. Glaubt man wirklich, Banker seien gegen die aktuelle Form der Regulierung, weil sie für Betrug, Terrorismusfinanzierung, Marktmanipulation, Korruption und Geldwäsche seien? Auch Anhänger eines skeptischen Menschenbilds sollten hier ins Zweifeln kommen. Vielmehr scheint es plausibel, dass die Ziele von Regulierung und Compliance von niemandem vernünftigerweise in Frage gestellt werden können – die Wege und Mittel ihrer Erreichung aber durchaus. Viele Pferde vor der KutscheFolgt man dieser Vermutung, bliebe zu fragen, welche Mittel und Wege die Kritik der befragten Investment Professionals motiviert haben könnten, und hier kommt wiederum Franz Kafka und unsere Handwerkerweisheit ins Spiel. In Gestalt von unzähligen neuen Regeln, Vorschriften, Formularen und Kontrollen werden immer mehr Pferde vor die “Compliance-Kutsche” gespannt. Die Ressourcen in den Compliance-Bereichen der Finanzinstitute wurden in den letzten Jahren nicht nur verstärkt, sie wurden vervielfacht. Repräsentative Studien hierzu liegen meines Wissens nicht vor, grob geschätzt scheint eine Vervielfachung um den Faktor drei jedoch realistisch zu sein. Dieser rapide Ressourcenaufbau geht mit dem Risiko einher, dass nicht vor allem besser, sondern in Teilen einfach nur mehr kontrolliert wird. Wo dieses Risiko eintritt, wächst das Unbehagen der Kontrollierten, wodurch der Kulturwandel ins Stocken gerät. Compliance muss deshalb nicht primär maximiert, sondern vor allem auf das Wesentliche, die Bekämpfung von Finanzkriminalität, konzentriert werden. Um in dieser Kritik nicht missverstanden zu werden: Eine starke Compliance-Funktion ist unabdingbar, um Fehlverhalten erkennen und sanktionieren zu können. Sie macht Banking besser. Sie braucht dafür aber nicht alles regeln zu wollen. Kulturwandel gelingt mit einer glaubwürdigen Ethik und beharrlicher Überzeugungsarbeit, nicht mit kleinteiligen Kontrollen. Compliance ohne Ethik bleibt blind, Ethik ohne Compliance dafür leer und oft folgenlos – und deswegen braucht es beides. Beispiele aus der PraxisSo weit die Theorie. Compliance wird besser, wenn sie Raum für selbstverantwortete ethische Entscheidung lässt. Aus der Praxis dazu zwei Bespiele, wie sie von Vertretern der verschiedensten Institute berichtet werden:Klar, Kulturwandel geht nicht ohne Aufmerksamkeit. Wer aber fast wöchentlich durch Teilnahme an einer Onlineschulung bestätigen muss, auch aufmerksam zu sein, fühlt sich mit der Zeit nicht mehr wirklich ernst genommen.Ohne Frage, ein Investment Professional muss im Kundeninteresse unabhängig sein. Die in vielen Instituten geltenden Regeln für Einladungen und Bewirtung suggerieren jedoch, dass ein günstiges Abendessen nicht mehr weit von einem Korruptionsversuch entfernt ist. Gerade dieses für die Sicherheit der Finanzindustrie nicht wirklich zentrale Gebiet der Veranstaltungen und Bewirtungen zeigt, wie verschiedene Maßnahmen am eigentlichen Ziel vorbeigehen. Am Anfang der Entwicklung stand der Sex-Skandal von Versicherungsvertretern im Gellért-Bad in Budapest, an ihrem Ende spärlich besuchte Fachveranstaltungen, weil der “Formular- und Genehmigungskram” vielen zu lästig ist. Ohne den direkten, regelmäßigen und institutsübergreifenden Austausch der Investment Professionals wird aber ein Kulturwandel in der Finanzindustrie nicht gelingen können.Was folgt daraus? Die Erkenntnis, dass sich totale Sicherheit nicht erreichen lässt, mag banal sein – sie wird trotzdem viel zu häufig vergessen. Auch in Zukunft wird es regelmäßig Skandale geben. Auch im Wirtschaftsleben, auch in der Finanzindustrie. So sehr man sich darüber im Nachhinein ärgern kann und sollte, so wichtig ist es, nicht in einen vorbeugenden Aktionismus zu verfallen. Mehr Regeln führen nicht notwendigerweise zu mehr Sicherheit.Aktuell sehen sich global agierende Finanzinstitute einer solchen Vielzahl und Komplexität regulatorischer Vorschriften ausgesetzt, dass kaum jemand sicher überblicken kann, was denn nun genau zu beachten ist. Regulierung und Compliance sollten aber Orientierung stiften. Dies können sie aber grundsätzlich nicht leisten, wenn sie zu kleinteilig werden. Die Situation des einzelnen Investment Professionals gleicht in diesen Zeiten daher oft dem Verlaufenen, dem man statt eines Kompasses eine Karte im Maßstab 1 : 1 in die Hand drückt: eine Karte, die so groß und komplex ist wie die Landschaft, die sie abbildet, stiftet eben grundsätzlich keine Orientierung – der Glass-Steagall Act passte auf knapp 30 Seiten; der Dodd-Frank-Act füllt mehr als 30 000! Gegenüber manchen Compliance-Handbüchern wirkt die Bibel wie ein praktisches Taschenbuch.Wir müssen daher dafür werben, die einzuhaltenden externen und internen Vorgaben in ihrem Umfang und ihrer Komplexität zu reduzieren. Nur so können sie wieder ihrer Orientierungsfunktion angemessen nachkommen. Regulierung und Compliance sollen also nicht weicher werden, sondern wesentlicher. Kompass für die EthikWeiterhin mag die Erkenntnis banal sein, dass sich nicht alles regeln lässt, weil Regelungen immer auf allgemeine Sachverhalte zielen und somit strukturell blind für den Einzelfall sind. Das verloren gegangene Vertrauen in die Finanzindustrie wird sich daher nicht allein durch neue und zusätzliche Regeln wieder herstellen lassen. Wir brauchen nicht nur zusätzlich, sondern vor allem eine Auseinandersetzung mit unseren Moralvorstellungen als Investment Professionals. Das vernünftige Nachdenken über Moral nennt man Ethik, und wie eine Ethik der Finanzindustrie aussehen könnte, um dem einzelnen Investment Professional als Kompass in seinem beruflichen Handeln zu dienen, haben wir an anderer Stelle formuliert. (vgl. http://www.dvfa.de/fileadmin/downloads/Verband/Mitgliedschaft/Ethik_und_Integritaet/Zur-Foerderung-ethischer-Tugenden-in-Finanzunternehmen-Langfassung.pdf).—-Henrik Pontzen, Mitglied des Vorstands der DVFA e.V.