Keine einfache Lösung für das "Produktivitätsrätsel"

Bei weiterhin niedrigem Wachstum stehen politische Entscheidungsträger und Investoren vor schwierigen Entscheidungen

Keine einfache Lösung für das "Produktivitätsrätsel"

Unsere wirtschaftliche Zukunft sieht heute grundlegend anders aus als noch vor wenigen Jahren: Fällt doch in der nächsten Dekade das Wirtschaftswachstum voraussichtlich niedriger aus als im historischen Durchschnitt. Es gibt viele Gründe für diesen Trend, aber eine Hauptursache ist sicherlich die Tatsache, dass sich das Produktivitätswachstum – der langfristige Motor für steigenden Lebensstandard – nach und nach verlangsamt hat.Dieser Einbruch ist rund um den Erdball zu spüren. Die Realeinkommen in vielen Industrieländern stagnieren seit Jahren. Dies hat sicherlich einen Beitrag geleistet, die politischen Ränder in zahlreichen Industrieländern zu stärken. Für Investoren führt das träge Produktivitätswachstum zu niedrigeren zukünftigen Ertragschancen. Die Ökonomen stellt dieser Sachverhalt vor ein Rätsel: Niemand scheint sich ganz sicher zu sein, was das Problem verursacht oder wie es behoben werden könnte.Bei Betrachtung der US-Wirtschaft als Präzedenzfall für die Analyse von Produktivitätswachstum lassen sich einige – zugegebenermaßen recht vage – Schlussfolgerungen ziehen. Der Grund für einen anhaltend rückläufigen Trend des US-Produktivitätswachstums nach dem Ende des Technologie-Aufschwungs könnte ein Rückgang der Investitionsausgaben sein. Aus welchem Grund auch immer ist es der US-Wirtschaft nicht gelungen, ihren Kapitalstock schneller zu vermehren als die Zahl der Arbeitnehmer. Eine solche Entwicklung beschränkt die wirtschaftliche Expansion, denn schwache Unternehmensgewinne stehen in enger Beziehung zu stagnierenden Investitionsausgaben und das wiederum behindert die Kreditvergabe an Unternehmen. Drei KomponentenEin Ansatz, sich dem Thema systematisch zu nähern, ist die Aufteilung des Produktivitätswachstums in drei Komponenten. Die Arbeitskräftestruktur, die Kapitalintensität und die Multifaktorproduktivität. Dabei misst die Arbeitskräftestruktur die Zusammensetzung der Belegschaft und wie sich deren Fähigkeiten im Laufe der Zeit mit Ausbildung und Erfahrung verbessern. Die Fähigkeit der Unternehmen, im Zeitablauf ihre Arbeiter mit immer besserer Ausrüstung auszustatten, nennt man Kapitalintensität – und die sogenannte Multifaktorproduktivität ist die Effizienzsteigerung über die reine Verbesserung der Arbeitskraft oder Ausrüstung hinaus. Nicht wirklich besserWenn wir die aktuelle Entwicklung aller drei zugrunde liegenden Faktoren nehmen, jeden einzeln weiter in die Zukunft projizieren und die Einzelteile dann wieder in eine Schätzung der Gesamtproduktivität zusammenfügen, lässt sich ermitteln, dass die US-Produktivität in den nächsten zehn bis 15 Jahren durchschnittlich 1,34 % pro Jahr wachsen sollte. Dies entspricht einer Erwartung von 1,7 % für das reale Wachstum des US-Bruttoinlandsprodukts im nächsten Jahrzehnt – und das ist nicht mehr als mittelmäßig.Für den Rest der Welt sind die Aussichten nicht wirklich besser. Obwohl das Produktivitätswachstum in den USA mehr als in anderen Regionen unter besonders geringeren Investitionsausgaben zu leiden hatte, bleibt dies ein globales Phänomen. Wie in den USA altert rund um den Globus die Belegschaft, während sich deren Qualifikation nur langsam verbessert. Auch hier liegen die Investitionsausgaben hinter den Erwartungen, wobei dieser Trend durch den Abschwung im Rohstoffzyklus noch verschärft wurde. Der hohe globale Verschuldungsgrad hilft dabei auch nicht weiter – Finanzsysteme, die ihr Pulver bereits verschossen haben, gewähren jungen Unternehmen eher seltener zusätzliche Kredite. Positive Effekte verlangsamtWeltweit hat ein Großteil der Unternehmen eine Verlangsamung der Produktivitätsgewinne erlebt, auch wenn einige innovative Start-ups überdurchschnittliche Produktivitätssteigerungen realisieren. Der positive Ansteckungseffekt für Unternehmen und Mitarbeiter durch neue Technologien hat sich jedoch verlangsamt, weshalb sich die Produktivitätsschere zwischen den führenden Unternehmen und den Nachzüglern immer weiter öffnet.Bei alledem sind die theoretischen Probleme, die die Messung der Produktivität mit sich bringt, nicht aus den Augen zu verlieren. Inwieweit die offiziellen Zahlen adäquat sind, um die heutige vernetzte, technologieorientierte Wirtschaft tatsächlich zu erfassen, wird vielfach diskutiert. So könnte der Produktivitätseinbruch zumindest zum Teil eine statistische Fata Morgana sein. Wie lassen sich beispielsweise die enormen Vereinfachungen, die der technologische Fortschritt in das Leben der Verbraucher gebracht hat, abbilden? Oder wie lassen sich Produktivitätsfortschritte im Dienstleistungssektor quantifizieren? Ein Arzt behandelt möglicherweise immer noch gleich viele Patienten wie vor 30 Jahren. Doch auch wenn diese Argumente sicherlich einen wahren Kern haben, sind sie keine umfängliche Erklärung für den signifikanten Produktivitätseinbruch der letzten zehn Jahre. Keine klare AngelegenheitSo ist das Problem der globalen Produktivität keine klare Angelegenheit mit offensichtlichen Lösungen. Die Analyse der Entwicklung in den USA deutet zwar stark darauf hin, dass sinkende Investitionsausgaben die Hauptverantwortung tragen, aber wir müssen anerkennen, dass andere Faktoren, wie fallende Verbesserungsraten in der Qualifikation der Arbeitskräfte und die zunehmende Relevanz des Dienstleistungssektors, einzubeziehen sind.All dies zusammengefasst heißt, dass wenn die Produktivität weiterhin niedrig bleibt, einige schwierige Entscheidungen vor politischen Entscheidungsträgern und Investoren liegen. Was die Investoren betrifft, sollten diejenigen die besten Renditen erzielen können, denen es gelingt, Regionen, Sektoren und Unternehmen zu identifizieren, die auch in einem Umfeld mittelmäßigen Produktivitätswachstums überdurchschnittliche Produktivitätssteigerungen erzielen können.—Tilmann Galler, Kapitalmarktstratege bei J.P. Morgan Asset Management in Frankfurt am Main