Konsensmanagement ist nicht nur lästige Pflicht für IR
Ein börsennotiertes Unternehmen und damit der Bereich Investor Relations (IR) ist gut beraten, nicht nur die internen Zahlen engmaschig zu überwachen, sondern auch den Konsenszahlen und damit den Markterwartungen eine über das Jahr hinweg gleichbleibende Aufmerksamkeit zu schenken. Die Erfahrungen zeigen auch, dass – bei kleineren und mittleren Gesellschaften – ein von einer Gesellschaft selbst ermittelter Konsens besser die Markterwartungen abbildet als die (häufig erklärungsbedürftigen) Mittelwerte von externen Datenbankanbietern.Hat man mit einem ex- oder intern ermittelten Konsens ein Instrument an der Hand, das eine Bandbreite an Erwartungen umfasst, sollte dieses kohärent genutzt werden, um Marktstimmungen aufzunehmen und durch gezielte IR-Maßnahmen zu unterstützen, gegenzusteuern oder Diskrepanzen zwischen IR-Maßnahmen und Marktwahrnehmung aufzudecken. Kritisch zu betrachten sind bei dem Monitoring und der Aufarbeitung der Konsenszahlen zwei Aspekte: die Komplexität und die Gewichtung.Verschiedene Datenbankanbieter bieten Konsensübersichten an. Über die Komplexität, d.h. über die Tiefe des Konsensus lässt sich anhand der Anzahl der berücksichtigen Schätzungen eine Aussage treffen, die in jedem Fall zu berücksichtigen ist. Grundsätzlich gilt hier der Zusammenhang zwischen Marktkapitalisierung bzw. Indexnotierung und Konsensustiefe. Je höher die Marktkapitalisierung desto komplexer und detaillierter ist typischerweise der Konsensus. Da die Anzahl der Schätzungen in hohem Maße positiv mit der Volatilität der Schätzungen korreliert, wird hiermit gerade Unternehmen in den großen deutschen Indizes eine Bandbreite an Marktreaktionen an die Hand gegeben, die es im Sinne einer gezielten Kapitalmarktkommunikation aufzuspalten gilt, um die Transparenz der ureigenen Unternehmenspotenziale und deren Wahrnehmung am Kapitalmarkt zu erhöhen.Im Bereich der deutschen Auswahlindizes lässt sich feststellen, dass es für alle Dax-Unternehmen mindestens 20 Schätzungen gibt. Während diese Werte damit über ausreichende Prognosen verfügen, verringert sich die Anzahl der Schätzungen wie erwartet mit der Marktkapitalisierung. Im MDax sind für nur noch 32 % aller Unternehmen mindestens 20 Schätzungen vorhanden, im SDax sogar nur für 1 von 50 Unternehmen. Bei 37 von 50 SDax-Gesellschaften liegt die Anzahl der verfügbaren Schätzungen sogar (deutlich) unter 10. Damit zeigt sich, dass das Thema Konsens offensichtlich und wie erwartet besonders für kleinere und mittlere Unternehmen durch die fehlende Verfügbarkeit und ausreichend breiten Schätzungen ein Thema ist.Nichtsdestotrotz bleibt aber dennoch für alle Unternehmen festzuhalten, dass die in verschiedenen Datenbanken reflektierten Zahlen konsolidierte Schätzungen sind, die meist über die Mittelwert- oder Medianbestimmung errechnet werden. Diese können zweifelsohne eine erste gute Orientierung geben, es bedarf aber einer zusätzlich kritischen Hinterfragung dieses statistisch gesehen reinen Lageparameters, der zwar relativ robust gegen extreme Abweichungen ist, aber dennoch verfälscht und irreführend sein kann. Was man jedoch häufig in diesen aggregierten Schätzungen nicht oder nur unzureichend sieht, das ist die Spannbreite der Erwartung für eine bestimmte Zahl. Häufig ist zudem festzustellen, dass bei bestimmten Ergebniszahlen unterschiedliche Größen (bereinigt versus berichtet) in den Konsens eingehen. Aufwand lohnt sichDie aktuelle Bestandsaufnahme ist ein deutliches Plädoyer vor allem für kleinere und mittlere Unternehmen, die Markterwartungen im Vorfeld der Veröffentlichung direkt und selber abzufragen, um sich ein realistischeres Bild zu machen. Da in diesem Fall auch namentlich bekannt ist, wer welche Erwartung hat, sollten in der Folge auch konsequent individuelle Dialoge zwischen Investor Relations und den Beteiligten zu bestimmten Sachverhalten aufsetzen.Sicherlich stellt die Erhebung unternehmenseigener Konsenszahlen, die anschließend auch an die Teilnehmer zurückgespiegelt werden, einen sehr hohen zeitlichen und administrativen Aufwand dar. Dieser kann aber im Hinblick auf Transparenz und Attraktivität durchaus lohnend sein, wenn diese unternehmenseigenen Konsenserhebungen drei Kriterien genügen:- vergleichbar, konsistent, aktuell- repräsentativ für den Markt- breite Vermarktung.Wenn man sich heute die gängige Praxis anschaut, dann stellt man fest, dass die Mehrheit der Unternehmen die von ihnen erhobenen Konsensdaten nur an die beteiligten Analysten/Investoren zurückspiegelt. Die daraus resultierende Frage heißt: Warum veröffentlicht die Mehrheit der Unternehmen diese Zahl nicht breit? Die häufig genannte Antwort auf diese Frage heißt: Uns gehören diese Daten nicht und wir wollen nicht die Verantwortung hierfür übernehmen. In einigen Fällen bekommt man auch die Antwort, dass diese Zahlen insgesamt nicht plausibel sind. Aus ökonomischer Sicht und aus Transparenzgründen kann ich jedoch nur empfehlen, diese Daten – mit entsprechenden Disclosures versehen – allen Anlegern und Interessierten zur Verfügung zu stellen, da ich glaube, dass sie für institutionelle und private Investoren, die nicht beteiligten Analysten, die Finanzpresse etc. eine wertvolle Information darstellen.Zu häufig wird meines Erachtens auch das Thema Konsens in das Zeitfenster vor der Veröffentlichung von Zahlen gebracht. Ich sehe es jedoch als eine klare IR-Aufgabe, die Markterwartungen regelmäßig zu beobachten und damit vor allem nach der Bekanntgabe von Zahlen, aber auch nach anderen relevanten Nachrichten einzusammeln, auszuwerten und auf dieser Basis die entsprechenden Investor Relations-Aktivitäten aufzusetzen. Stellschraube der StrategieFazit: Die Erhebung von Markterwartungen auf einer verlässlichen und relevanten Datenbasis ist für jeden Investor Relations-Bereich eine wichtige Stellschraube der IR-Strategie. Und im Übrigen gilt: Die Mehrheit der Schätzungen muss nicht besser sein als eine einzelne Schätzung. Im Sinne einer möglichst hohen Transparenz, die Vertrauen in ein Unternehmen schafft, kann es auch nicht das Ziel sein, den Konsensus in einer Weise zu betrachten, die in der Mehrzahl der Fälle für positive Ergebnisüberraschungen sorgt. Die Aussage von Analysten, dass in der Vergangenheit die Prognosen des Unternehmens immer äußerst konservativ gewesen und stets für Ergebnisüberraschungen gesorgt worden sei, der Konsens immer am unteren Ende gelegen habe, kann ein Anzeichen für ein fehlgesteuertes Konsensmanagement sein. Eine positive Kursreaktion auf ein Übertreffen der Konsensannahmen hat sich mehrheitlich als rein kurzzeitiger Ausschlag gezeigt, nicht aber als zuträglich bei einem über den Tagesrand hinausgehenden Blickwinkel.—Christoph Schlienkamp, Managing Director Small Cap Research beim Bankhaus Lampe und Mitglied in verschiedenen Gremien im DIRK und bei der DVFA