Kundenverständnis auf dem Prüfstand
Eines der wichtigsten Fortbildungsprogramme für Banken und Versicherungen ist der Kulturwandel beim Kundenverständnis. Denn die Zeiten klassischer Kundensegmente sind vorbei. Was Verbraucher wünschen und brauchen, zeigt sich viel deutlicher in sogenannten Mindsets – geteilten Denk- und Handlungsmustern. Diesen Perspektivwechsel müssen die Unternehmen vollziehen und konsequent bei Führungskräften und Mitarbeitern verankern.Seit mehreren Jahren zeigt sich: Eine Kundenansprache, die rein auf demografischen Merkmalen basiert, verliert an Wirkung. Zu diesen Merkmalen zählen Geschlecht, Alter, Familienstand, Kinder, Einkommen und Vermögen. Ein Katalog relativ statischer Kriterien also, der in den meisten Finanzinstituten bestimmt, welche Produkte und Dienstleistungen einem Verbraucher empfohlen werden.Doch so einfach ist die Welt nicht mehr strukturiert. Alter und Geschlechterrollen werden unwichtiger, der Familienstand ist nur noch eine Momentaufnahme und die Zusammenhänge zwischen vielen Kriterien werden vielfältiger. So machen es klassische Merkmalkataloge den Kundenbetreuern und Agenten immer schwieriger, potenziellen und Bestandskunden erfolgreich Produkte zu empfehlen. Diese fühlen sich unverstanden und nicht dort abgeholt, wo sie sich befinden.Der Weg zurück zum Kunden und höherer Wettbewerbsfähigkeit führt weg vom klassischen Vermessen des Verbrauchers. Kein einfacher Schritt für Branchen, deren Entscheidungen vor allem auf objektiven Merkmalen und deren zahlenmäßiger Auswertung beruhen. Der Schritt ist jedoch notwendig, um erkennen zu können, was Kunden sich wünschen und was ihnen wichtig und schützenswert ist.Hilfe dabei verspricht das Konzept der Mindsets. Entwickelt wurde es bereits vor mehr als zehn Jahren von der Stanford-Professorin Carol Dweck. Mindsets lassen sich als geteilte Geisteshaltungen beschreiben, die sich in Denk- und Verhaltensmustern zeigen. Doch erst in jüngerer Zeit erfahren sie ernsthafte Beachtung auf Seiten von Unternehmen, die feststellen, dass klassische Kundensegmentierung allein nicht mehr fruchtet.In mehreren qualitativen Untersuchungen hat Fjord Erkenntnisse über die Mindsets von Bankkunden und Versicherungskunden gewonnen. Die Ergebnisse zeigen, warum es für die Unternehmen beider Branchen wichtig ist, beim Blick auf Kunden neue Perspektiven einzunehmen und Führungskräfte sowie Mitarbeiter dafür zu sensibilisieren.Unter Bankkunden gibt es vor allem vier geteilte Denk- und Verhaltensmuster, die den Umgang mit Finanzen und die Bedeutung von Geld bestimmen:1. “Achievers” – Angehörige dieses Mindsets definieren Erfolg durch das Erreichen klarer Ziele. Sie wollen die Kontrolle behalten und gut auf die Zukunft vorbereitet sein.2. “Balancers” sind auf der Suche nach dem besten Deal. Finanzieller Erfolg bedeutet für sie das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis.3. “Experiencers” genießen das Hier und Jetzt. Ihnen macht es Spaß, Geld auszugeben und sie blicken optimistisch in die Zukunft.4. Für “Explorers” bedeutet finanzieller Erfolg Sparen und sich damit die Basis für ein angenehmes Leben in der Zukunft zu schaffen.Daraus ergeben sich einige wichtige Konsequenzen für die Bankpraxis. Zum Beispiel, dass der Anspruch an detaillierte Informationen über die eigene finanzielle Situation nicht vom Einkommen abhängig sein muss. Ein Achiever kann jemand sein, der 20 000 Euro im Monat zur Verfügung hat oder 2000 Euro. Beiden Personen sollte eine Bank sehr detaillierte Analysetools anbieten. Ebenso können sowohl Personen mit hohem, als auch Menschen mit niedrigem Einkommen Experiencers sein – für die eine Bank zum Beispiel einen Service ins Online-Banking integrieren könnte, der hilft, das Ausgabeverhalten besser zu steuern.Das Mindset-Modell lässt sich auch in der Versicherungsbranche anwenden. Bei Versicherungskunden gibt es folgende vier Mindsets:1. “Optimizer” glauben fest an das Prinzip Versicherung. Sie investieren persönlich Zeit in die Suche nach dem aus ihrer Sicht besten Versicherungsschutz, für den sie dann auch bereit sind, etwas mehr zu bezahlen. Haben sie sich für ein Unternehmen entschieden, tendieren sie dazu, ihm die Treue zu halten.2. Für “Satisfiers” sind Versicherungen ein notwendiges Übel. Sie nutzen Preisvergleiche und Vergleichsportale. Markenbekanntheit spielt mit eine Rolle bei der Entscheidung für oder gegen einen Versicherer.3. “Experiencers” blicken eher auf das Hier und Jetzt statt in die Zukunft. Entsprechend begnügen sie sich bei Versicherungen gerne mit dem, was rechtlich erforderlich ist.4. “Seekers” sind Kunden, die einen bestimmen Teil ihres Lebens optimal versichert sehen wollen – etwa ein Hobby oder ihre Gesundheit. Für alle anderen Bereiche reicht ihnen der Basisschutz oder sie verzichten dort ganz auf eine Versicherung.Diese Muster machen unter anderem deutlich, dass sich die Bedürfnisse von Versicherungskunden nur sehr unzureichend an herkömlichen Faktoren wie Alter und Einkommen orientieren.Auf den Punkt gebracht lautet der Vorteil von Mindsets gegenüber klassischer Kundensegmentierung: Mindsets kontextualisieren, Kundensegmente dagegen isolieren. Segmentierungen sind in der Regel quantitativ. Sie bilden den Durchschnitt und die Vergangenheit ab. Dabei bleiben der Kontext von Handlungen und die Komplexität des menschlichen Handelns auf der Strecke.Mindsets dagegen erlauben einen Blick in die Zukunft, denn sie basieren auf qualitativen Untersuchungen und ethnografischer Arbeit, kombiniert mit einer fundierten Analyse des Ist-Zustandes. Mindsets beschreiben Wünsche und Ziele – und ermöglichen es damit Banken und Versicherungen, Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln und anzubieten, die einen Nerv treffen.Mindsets sind dabei keine neue Schablone, mit denen Unternehmen ihre Arbeit wie gewohnt fortsetzen können. Das Konzept erfordert echtes Umdenken und neue Arbeitsweisen. Banken und Versicherungen müssen die neue Art des Kundenverständnisses zunächst verinnerlichen, um es dann erfolgreich auf Führungs- und Mitarbeiterebene ausrollen zu können. Matthias Wellin, Director bei der Innovations- und Designberatung Fjord, die zu Accenture gehört