"Macht doch mal was mit Machine Learning"

Gerade Versicherer sollten nicht blind auf den Zug aufspringen

"Macht doch mal was mit Machine Learning"

Dr. Gero NießenDirector bei Willis Towers WatsonBig Data, Machine Learning, Artificial Intelligence, das Internet of Things – “Buzzwords” wie diese sind in deutschen Vorstandsetagen in aller Munde. Im Gegensatz zu anderen Branchen haben Versicherungsunternehmen, die gemeinhin als unbeweglich gelten, den Wert ihrer umfangreichen Kundendaten bereits deutlich früher als wesentlichen Vorteil erkannt und setzen seit den 80er Jahren Techniken des “Predictive Modelling” ein. Kein Wunder, liefern doch die Daten der versicherten Risiken zusammen mit den eingetretenen Schäden den Versicherern die einzige Grundlage, ihr Produkt mit einem adäquaten Preis zu versehen. Automatisierte Analysemethoden wie Machine-Learning-(ML-)Verfahren halten nun nach und nach in vielen Branchen Einzug. Diese werden zukünftig einen nicht zu unterschätzenden Einfluss haben – auch auf die Versicherungsbranche. Noch ist in vielen Häusern aber unklar, wie man von diesen Verfahren wirklich profitieren kann.Grundlegende Voraussetzung für ML ist, dass die zu analysierenden Daten digital und in geeigneter Struktur vorliegen. Gerade bei Briefen, Schadenakten oder Sensorinformationen ist dies aber nicht der Fall. Um diese Daten in eine adäquate Struktur zu bringen, ist die Anwendung von ML Verfahren sehr geeignet, zum Beispiel zum Digitalisieren von Telefonmitschnitten. Eine Herausforderung dabei ist, dass die so entstehenden großen Datenmengen oft nicht mehr in klassischen Datenbanken gehalten werden können. Vielmehr erfordert die später geplante Anwendung von ML-Verfahren auf solche Daten in der Regel grundlegend andere Datenstrukturen, deren Aufbau für viele IT-Abteilungen in Versicherungen noch echtes Neuland ist.Neben der Anwendung zur Digitalisierung und Strukturierung von analogen Daten können ML-Techniken bei Versicherungen auch eingesetzt werden, um das Wettbewerberverhalten zu analysieren. Ein weiteres sinnvolles Beispiel: Aus der Fülle von Informationen, die eine Telematikbox im Auto liefert, lassen sich zielgerichtet Faktoren ableiten, die beschreiben, wie vorausschauend ein Fahrer fährt. Auf der anderen Seite lässt sich die Schadenbearbeitung signifikant beschleunigen, indem die Auswertung von Fotos eines geschädigten Fahrzeugs zuverlässige Prognosen zur Schadenhöhe liefert.Weltweite Projekte mit Versicherern haben uns aber auch gezeigt, wo Machine-Learning-Techniken eher ungeeignet sind: Zum Beispiel, wenn die Modellprognosen gegenüber der Aufsichtsbehörde oder dem Vertriebspartner erläutert und begründet werden müssen – beides ist bei Preisen für Versicherungen der Fall. Es ist schlichtweg unglaubwürdig, wenn ein Tarif in Abhängigkeit vom Alter unerklärbar schwankt. Warum sollte (bei sonst gleichen Risikomerkmalen) ein 33-jähriger Versicherungsnehmer mehr Prämie bezahlen als ein 32- und ein 34-jähriger? Doch genau dieses Verhalten, das in Fachkreisen als Strukturbruch bekannt ist, ist häufig das Ergebnis des unreflektierten Anwendens von ML-Verfahren.Versicherer sollten also nicht wahllos auf den Machine-Learning-Zug aufspringen, sondern genau ausloten, für welche Fragestellungen welche Methoden wirklich angemessen sind. Hektischer Aktionismus ist hier fehl am Platze. Darüber hinaus sollten nicht die Verfahren isoliert im Vordergrund stehen, sondern immer die Frage, wie das Geschäft verbessert und die Wertschöpfung damit erhöht werden kann. Und Unternehmen, die auch heute noch keine soziodemografischen Daten für ihr Pricing verwenden, sollten zunächst diesen naheliegenden Weg gehen, anstatt direkt mit dem übernächsten Schritt (Machine Learning) zu starten und dabei zu stolpern.