Mehr Engagement für Kultur und Gesellschaft
Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers erleben wir in den demokratisch legitimierten Gesellschaftssystemen des Westens eine Entwicklung, die die Gefahr einer systemischen Erschöpfung in sich trägt. Die Veränderungen um uns herum sind epochal und die Geschwindigkeit ihrer Verbreitung hoch. Damit verbunden ist ein zunehmender Mangel an inhaltlicher Differenzierung, der angesichts komplexer gewordener Sachverhalte zu vermeintlich einfachen Lösungen führt. Überspitzt ausgedrückt entsteht mitunter der Eindruck, die Politik habe ihren Gestaltungsanspruch, zumindest ihren Gestaltungswillen aufgegeben und erschöpfe sich in sich selbst.Vor wenigen Wochen äußerte der Bundespräsident im Rahmen des “Forum Bellevue”, zu dem er unter dem Rubrum “Risse und Ressentiments – über die Fragmentierung und Emotionalisierung von Politik und Gesellschaft” geladen hatte, dass es angesichts der gegenwärtigen Situation eines “demokratischen Patriotismus” aller bedarf. Diesem so verstandenen Patriotismus entspricht das Postulat eines deutlich stärkeren Engagements der Wirtschaft für Kultur und Gesellschaft, selbst wenn es für den Zusammenhalt aller keine neue Erkenntnis ist.Im Gegenteil – schon der Gründungsgedanke der Unesco, der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur, zielt darauf ab, internationalen Frieden durch kulturellen Dialog zu schaffen und zu bewahren. Dieser Dialog ist ein zentraler Baustein der Weltgemeinschaft im 21. Jahrhundert. In der Verfassung der Unesco aus dem Jahr 1945 heißt es: ” (. . .) da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden. (. . .) Ein ausschließlich auf politischen und wirtschaftlichen Abmachungen von Regierungen beruhender Friede kann die einmütige, dauernde und aufrichtige Zustimmung der Völker der Welt nicht finden. Friede muss – wenn er nicht scheitern soll – in der geistigen und moralischen Solidarität der Menschen verankert werden.”Nun sind wir in der westlichen Welt weit von einem (militärisch geführten) Krieg entfernt, dennoch erleben wir das “Nachbeben” der globalen Finanzkrise aus dem Jahr 2008, wie es der britische Historiker Adam Tooze kürzlich in seinem Buch “Crashed” benannt hat. Deutschland hat, wie andere Länder auch, einen “schockierenden parteipolitischen Wandlungsprozess” durchlaufen, der durch Polarisierung und Fragmentierung gekennzeichnet ist. Es ist zwischenzeitlich weitgehend unstrittig, dass die globale Finanzkrise und ihre Verwerfungen an dieser Entwicklung ihren maßgeblichen Anteil tragen. Noch nie in der Nachkriegsgeschichte war der Vertrauensverlust in die Eliten der Finanzwirtschaft so groß. Und er wirkt bis heute fort.In diesem grundlegend veränderten Umfeld kommt der Kultur als gesellschaftlichem Bindeglied, auch als Anspruch auf Teilhabe, eine entscheidende Bedeutung zu. Dabei ist der Begriff der Kultur in einem umfassenden Sinn zu verstehen, denn ebenso wie die historische Entwicklung des modernen Kulturbegriffs ist die Gegenwart durch das Nebeneinander unterschiedlicher konzeptueller Ansätze gekennzeichnet. In Anbetracht dessen hat sich in den letzten mehr als zehn Jahren ein bedeutungs- und wissensorientierter Kulturbegriff, der gleichermaßen semiotisch und konstruktivistisch geprägt ist, international in Wissenschaft und Praxis als herrschend erwiesen.Danach wird Kultur als der von Menschen erzeugte Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Entscheidungsweisen, Werten und Bedeutungen aufgefasst, der sich in Symbolsystemen materialisiert. Dieser Kulturbegriff trägt der Tatsache Rechnung, dass Kulturen nicht nur eine materielle, sondern zugleich eine soziale und mentale Dimension haben. Demgegenüber ist bei uns in Deutschland eher eine normative Fassung des Kulturbegriffs von Bedeutung. Sie betont die Perspektive der Wechselwirkung von Bildung und Kultur unter dem Aspekt der Perfektibilität beider. Sie ist somit eng mit den Traditionen des Bildungsbegriffs verbunden, von Shaftesbury über Kant, Schiller, Goethe, Humboldt, Hegel, Nietzsche bis zu Adorno. Letzterer sieht Kultur als die objektive Seite von Bildung und Bildung als die subjektive Seite von Kultur. Gemeinsam gestaltenDiese Überlegungen wurden von der Unesco 1982 während ihrer zweiten Weltkonferenz über Kulturpolitik aufgenommen. Danach wird der Mensch “durch die Kultur befähigt (. . .), über sich selbst nachzudenken. Erst durch die Kultur werden wir zu menschlichen, rational handelnden Wesen, die über ein kritisches Urteilsvermögen und ein Gefühl der moralischen Verpflichtung verfügen. Erst durch die Kultur erkennen wir Werte und treffen die Wahl. Erst durch die Kultur drückt sich der Mensch aus, wird sich seiner selbst bewusst, erkennt seine Unvollkommenheit, stellt seine eigenen Errungenschaften in Frage, sucht unermüdlich nach neuen Sinngehalten und schafft Werke, durch die er seine Begrenztheit überschreitet.” Aus dieser Definition lässt sich eine tragfähige Zukunftsorientierung ableiten, um gemeinsam eine Gesellschaft zu gestalten, die Vielfalt in all ihrer Widersprüchlichkeit und Konfliktträchtigkeit anerkennt und die Teilhabe, Chancengleichheit und Solidarität als kulturellen Arbeitsauftrag versteht.Dieser Auftrag richtet sich aber nicht nur an die Politik, sondern ist an alle Anspruchsgruppen unserer Gesellschaft adressiert. Es ist erfreulich, dass große international tätige Investoren, die sich in der Vergangenheit als Protagonisten einer ausschließlich auf die Maximierung des Unternehmenswertes fokussierten Steuerung verstanden haben, zunehmend Wert darauf legen, dass die Gesellschaften, in die sie investieren, in diesem Geist handeln. Eine besondere mediale Aufmerksamkeit erfuhr Mitte Januar dieses Jahres Laurence Douglas “Larry” Fink, Gründer, Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzender des weltgrößten Vermögensverwalters BlackRock, der sich brieflich an die Chefs international tätiger Unternehmen gewandt hat.Er mahnte sie, nicht nur einen möglichst hohen Gewinn anzustreben, sondern zugleich auf die Rolle der Unternehmen in der Gesellschaft insgesamt zu achten. “Die Gesellschaft verlangt, dass Unternehmen, private wie öffentliche, einem sozialen Zweck dienen”, schrieb er nach Angaben der “New York Times”. Und Fink fügte hinzu: “Um langfristig zu prosperieren, muss jedes Unternehmen nicht nur eine finanzielle Leistung erbringen, sondern auch zeigen, wie es einen positiven Beitrag zur Gesellschaft erbringt.” Alle müssten profitieren. ErkenntniswandelDas entspricht einem allgemein zu beobachtenden Erkenntniswandel großer Investoren. Umso mehr stellt sich die Frage, warum diese Erkenntnis nicht generell in einer veränderten Einstellung der Verantwortungsträger sowie in erhöhten Budgets ihren Niederschlag findet – gerade in einer Zeit, in der die Zentrifugalkräfte unserer Gesellschaft zunehmen und mehr denn je die Notwendigkeit besteht, das Gemeinsame, das Einende, zu betonen.Tatsächlich ist das kulturelle und gesellschaftliche Engagement der Finanzwirtschaft seit Lehman jedoch inhaltlich und finanziell deutlich reduziert worden – eine Tatsache, die ebenso für andere Teile der Wirtschaft zutrifft. Was in der Vergangenheit vielerorts als selbstverständlich betrachtet wurde, scheint nicht mehr Geltung zu beanspruchen. Mit in der Sache unterschiedlichen, aber im Ergebnis gleichlautenden Gründen wurden Traditionen beendet und Budgets redimensioniert. Betriebswirtschaftlich ist an den Entscheidungen nichts auszusetzen, aber in einer Zeit, in der unsere Gesellschaft vor bislang nicht gekannten Herausforderungen steht, sollte verantwortungsbewusst geprüft werden, inwieweit der “Bedarf” der Gesellschaft ein stärkeres Engagement erfordert, zumindest aber rechtfertigt.Natürlich gibt es viele Ausnahmen. Banken und Sparkassen engagieren sich vielfältig – direkt oder über von ihnen gegründete Stiftungen. Auch der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, der Deutsche Kulturrat und andere Gemeinschaftsinitiativen werden von Vertretern der Finanzwirtschaft mitgetragen. Aber um den Erhalt des Status quo ante geht es nicht. Es geht darum, mehr zu tun, trotz Niedrig- und Negativzins, Kapitalstärkung, Bankenabgabe oder IT-Investitionen zur Umsetzung von Digitalisierungsstrategien oder neuen aufsichtsrechtlichen Vorgaben. Natürlich sind die Gegenargumente bekannt, doch das Wiederholen alter Einwände führt zu keinen Veränderungen, auch sonst nicht. In der VerantwortungTatsache ist, dass die Finanzwirtschaft ihre Krise selbst verursacht hat und somit in der Verantwortung steht. Die sie zweifelsohne begünstigenden Umstände vermögen dabei zu keiner anderen Betrachtung führen, da die Institute und ihre Organe ausschließlich in freier Selbstbestimmung gehandelt haben. Der daraus entstandene Schaden ist immens und hat sowohl eine gesellschaftliche als auch eine finanzielle Dimension. Gesellschaftlich wurde das Vertrauen in die globale Wirtschaftsordnung mit den bereits angesprochenen Folgen erschüttert. Und finanziell bedurften private ebenso wie öffentlich-rechtliche Institute der Hilfe des Staates, also von uns allen. Und sie haben sie bekommen.Davon haben auch die Gläubiger dieser Institute profitiert. Und das sind viele, selbst wenn es die Betroffenen nicht unbedingt wahrhaben wollen. Neueste Zahlen der Bundesregierung weisen darauf hin, dass die Kosten für die Rettung auf mehr als 68 Mrd. Euro steigen werden. Das sind über 3 000 Euro pro Familie. Und ohne das – wenn auch nicht justiziable – Versprechen der Bundeskanzlerin “Wir sagen den Spare- rinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind” wäre die Situation seinerzeit vermutlich noch schwie- riger gewesen. Es ist deshalb an der Zeit, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Ein guter VorschlagRobert J. Shiller von der Yale University unterbreitete 2012 in seinem Bestseller “Finance and the Good Society” – Brücken bauend – den Vorschlag, die Finanzindustrie solle sich zukünftig als Verantwortungsträger für gesellschaftliche Werte (“finance should be defined as the stewardship of society’s assets”) verstehen. Das mag manchem überzogen, manchem zu wenig griffig, vielleicht auch zu pathetisch, ja möglicherweise altruistisch vorkommen. Das ist aber nicht entscheidend. Es ist wie bei allen Werten beziehungsweise Wertvorstellungen: Es geht um die (erstrebenswerten, moralisch oder ethisch als gut befundenen) Wesensmerkmale oder – anders ausgedrückt – um die spezifische Einstellung in der Führung eines Unternehmens. Und deshalb ist der Vorschlag gut.Soziologisch betrachtet hat er zudem den Vorteil, dass er zu einem Prärogativ der Bildungs- und Kulturelite gegenüber einer letztlich beliebigen Positionselite führt, ähnlich wie die kopernikanische Erkenntnis, dass sich nicht die Sonne um die Erde dreht, sondern umgekehrt.Alfred Herrhausen hat als intellektuell scharfsinniger und nachdenklicher Vertreter unserer Zunft schon früh auf den sowohl unternehmerischen als auch gesellschaftlichen Zusammenhang von Führung und Führungsverantwortung verwiesen und beides in einem weiteren Sinne verstanden. Im Anschluss an den Nationalökonomen Max Weber geht es dabei letztlich um das Problem der richtigen Balance beziehungsweise um den Unterschied zwischen einer Verantwortungsethik, die sich in erster Linie an den Folgen des gesellschaftlichen Handelns und nicht an den ideologischen Zielen orientiert, und einer Gesinnungsethik, die Handlungsabsichten, Handlungsgrundsätze und das Handeln an sich aus Überzeugungen und nicht aus Nützlichkeitsabwägungen definiert. Mut und Überzeugung nötigIm Spannungsfeld divergierender Interessen bedarf ein verstärktes kulturelles und gesellschaftliches Engagement der Finanzwirtschaft des Mutes und der Überzeugung der Geschäftsleitung, sowohl verantwortungs- als auch gesinnungsethisch zu handeln und für kulturelle und gesellschaftliche Überzeugungen einzustehen beziehungsweise philanthropische Impulse zu setzen. Dabei geht es nicht nur um schlichtes Kultursponsoring, sondern durchaus auch um ein mäzenatisches Engagement im Sinne einer positionsreflektierenden Definition unternehmerischer Gestaltungsspielräume, ohne die rechtliche Verpflichtung zur Rechtfertigung in Zweifel zu ziehen.Schließlich stehen Banken und Sparkassen mehr als andere Branchen im Mittelpunkt medialen Interesses. Institutsschieflagen und -zusammenbrüche verursachen stets einen Aufschrei in der öffentlichen Meinung, und prosperierende Geschäfte bringen die Finanzwirtschaft in die Nähe des Verdachts unternehmerischer Gier. Daraus folgt für die Finanzwirtschaft die existenziell bedingte Notwendigkeit, in besonderer Weise persönlich und institutionell moralischen Ansprüchen zu genügen. Dabei reicht es für die institutionelle Integrität allein nicht aus, in einen entsprechend normativen Rahmen eingebettet zu sein wie es etwa bei den Sparkassen durch die jeweiligen Landesgesetze beziehungsweise Satzungen der Fall ist, denn wichtiger ist das tatsächliche dafür Einstehen.Neben Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit in kulturellen und gesellschaftlichen Angelegenheiten als Teil des Persönlichkeitsprofils bedarf es des Mutes, durch ein kulturelles und gesellschaftliches Engagement Positionen zu beziehen, sich für sie einzusetzen und ein Institut folglich – stets aufs Neue – in der Mitte einer sich beständig wandelnden Gesellschaft zu verankern. In Nordrhein-Westfalen hat die konservativ-liberale Landesregierung unter Armin Laschet 2017 trotz hoher Verschuldung den Kulturetat verdoppelt. Und auch der Bundeskulturhaushalt wurde für 2018 um 312 Mill. Euro auf 1,67 Mrd. Euro aufgestockt. Es sind nicht nur starke, sondern wichtige Zeichen in herausfordernden Zeiten. Die Finanzwirtschaft sollte sich daran ein Beispiel nehmen. Grund dazu hat sie allemal. Es lässt sich gut argumentieren, dass sie zehn Jahre nach Lehman gegenüber der Gesellschaft in einer Bringschuld ist.—-Thomas A. Lange, Vorstandsvorsitzender der National-Bank AG