Mehr Sensibilität für unsere Vorbildfunktion erforderlich
In den Sonderbeilagen der Börsen-Zeitung der vergangenen Jahre zur Aus- und Fortbildung in der Finanzwirtschaft sind eine Vielzahl kluger Beiträge zu finden, die sich mit den damit verbundenen Rahmenbedingungen, Anforderungen und Perspektiven auseinandersetzen. Der eine oder andere “Weckruf für die Politik” ist ebenso dabei gewesen wie das (häufiger anzutreffende) Postulat, Wirtschaft (nun endlich) als Schulfach zu verankern und die Curricula für Lehrer und Schüler entsprechend inhaltlich zu ergänzen.Allen Beiträgen ist gemein, dass sie von einer primär extrinsischen Sicht geprägt sind. Das ist legitim, denn die Vielfalt auch publizistischer Meinungen lebt von der Unterschiedlichkeit der Perspektive. Fraglich ist jedoch, ob dieser Blickwinkel geeignet ist, die Thematik vollständig zu erfassen, oder ob er nicht die Gefahr in sich trägt, die Diskussion über die insofern verbundenen Anforderungen zu verengen und damit die Ausgewogenheit der Argumente zu vernachlässigen. Es ist an der ZeitVor diesem Hintergrund ist es an der Zeit, sich der Mühe einer intrinsisch ausgerichteten Analyse auszusetzen. Dies vor allem deshalb, weil der von außen bestimmte Blick einen entscheidenden Aspekt der Diskussion über die Aus- und Fortbildung in der Finanzwirtschaft auszublenden droht: die Vorbildfunktion, die wir als Führungskräfte und in besonderer – zum Teil in organschaftlicher – Verantwortung stehend tragen. Das gilt selbstverständlich für die gesamte Wirtschaft, unabhängig von der jeweiligen Branche. Es ist jedoch überzeugender, vor der eigenen Türe als vor der Pforte anderer zu kehren. Insofern möchte ich den Blick auf die Finanzwirtschaft werfen, auch wenn der Begriff in Bezug auf die definitorische Präzision seines Inhaltes eine punktuell nicht zu leugnende Unschärfe in sich trägt. Unbehagen greift um sichUmfragen unterschiedlicher Provenienz eint die Feststellung, dass sich das Vertrauen der Zwanzig- bis Dreißigjährigen in die Fähigkeit und Integrität der Führungskräfte der Finanzwirtschaft weit von einstigen Höchstwerten entfernt hat. Gespräche mit Auszubildenden unterschiedlicher Institute und Studierenden verschiedener Hochschulen bestätigen das, und es scheint, dass sich dieser Trend im Verlauf der letzten Jahre verstärkt hat. Es greift offenbar ein Unbehagen um sich, das sich nicht nur auf das Verhalten mancher Führungskräfte bezieht, sondern zunehmend Zweifel an der Funktionsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft weckt. Es ist deshalb mehr denn je an der Zeit, das eigene Verhalten selbstkritisch in den Blick zu nehmen und mit den Anforderungen an eine Funktion als Vorbild gerade für junge Menschen zu spiegeln.Dabei kann offen bleiben, ob es notwendig ist, den Wunsch nach Vorbildern analog der großen Psychoanalytikerin und Medizinerin Margarete Mitscherlich als “ein menschliches Urbedürfnis” zu beschreiben, denn es ist sowohl in psychologischer als auch soziologischer Wissenschaft und Praxis unstreitig, dass gerade junge Menschen dazu neigen, Personen, denen sie aufgrund eines hohen oder vermeintlich hohen Ansehens eher nicht nahestehen, hinsichtlich aller oder eines Teils ihrer Verhaltensmuster nachzuahmen oder zu versuchen, sie nachzuahmen. Es ist ein Reflex bei der Suche nach eigener Orientierung insbesondere in den Jahren, in denen die Eltern ihre ausschließliche und/oder überwiegende Vorbildfunktion verlieren und alternative Vorbilder oder Ideale in den Mittelpunkt rücken.Freud, der sich 1921 in seinem Standardwerk “Massenpsychologie und Ich-Analyse” umfassend mit dieser Thematik auseinandergesetzt und die wissenschaftlichen Grundlagen für die heutigen Erkenntnisse gelegt hat, beschreibt die “Identifikation” mit einem Vorbild als einen psychodynamischen Prozess, der eine Angleichung des eigenen Ich zu dem zum Vorbild genommenen Ich zum Ziel hat. In der Folge benehme sich das erste Ich in bestimmten Hinsichten so wie das andere, ahme es nach und nehme es gewissermaßen in sich auf.Im Ergebnis ähnlich, in der methodischen Annäherung sowie im theoretisch-konzeptionellen Verständnis allerdings unterschiedlich hat sich der amerikanische Soziologe Robert K. Merton mit dem Phänomen der Vorbildsuche auseinandergesetzt, indem er den heute im Englischen herrschenden Begriff des “Role Model” in die Diskussion einführte. Merton versteht darunter Vorbilder, die als Muster für spezifische Rollen nachgeahmt werden, und unterscheidet sie von “Reference Individuals”, die als Muster für die generelle Lebensweise nachgeahmt werden. “Role Models” lassen sich rezeptiv von einem Vorbild trennen und erlauben subjektiv mithin einen leichteren Transfer.Welchem Verständnis der Vorzug einzuräumen ist, bedarf an dieser Stelle keiner Bewertung. Entscheidend ist zum einen die Anerkennung der Tatsache, dass die Vorbildfunktion der Führungskräfte der Finanzwirtschaft einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung auch junger Erwachsener ausübt. Und entscheidend ist zum anderen die Notwendigkeit, dass wir mehr denn je unser Handeln gleichermaßen überlegt und konsequent danach ausrichten müssen. Es dürfte unstreitig sein, dass vielerorts die Glaubwürdigkeit der handelnden Verantwortungsträger und die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen verloren gegangen sind. Betrug, Untreue, Geldwäsche, Steuerhinterziehung sind einschließlich der Anstiftung und Beihilfe hierzu Straftatbestände, deren Vorwürfe gerade für eine Branche, die in besonderem Maße vom Vertrauen in die Ehrlichkeit und Integrität der Handelnden lebt, verstörend sind. Nicht verwunderlichNatürlich gilt in jedem Einzelfall die grundgesetzlich verbriefte Vermutung der Unschuld, gerade in einer Zeit zunehmender medialer Vorverurteilungen, aber dennoch brauchen wir uns nicht zu wundern, dass auf politischer Ebene – unabhängig von der juristischen Systemkonsequenz – immer öfter die Frage nach der Einführung eines Unternehmensstrafrechts gestellt wird. Und wir brauchen uns auch nicht zu wundern, dass auf der in Bezug auf die Intensität staatlicher Sanktionen nachgelagerten Ebene des Rechts der Ordnungswidrigkeiten das Wertpapierhandelsgesetz mittlerweile über knapp 400 entsprechend bewehrte Tatbestände verfügt, während die Straßenverkehrsordnung, deren Zweck letztlich darin besteht, Leib und Leben eines jeden von uns zu schützen, mit gut 50 auskommt.Es geht hier nicht darum, eine Diagnose der Finanzwirtschaft zu stellen. Dies wurde an anderen Stellen anschaulich und vielfältig getan. Vielmehr geht es darum, einen Beitrag für die Rückkehr zu einer Reflexion über die Vorbildfunktion zu leisten, die auch in ethischer Hinsicht den finanzwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Anforderungen der Gegenwart angepasst ist, denn die Finanzkrise war letztlich – wegen direkter und indirekter Staatshilfen – eine Legitimitätskrise der Finanzwirtschaft, deren Spuren bis in die Gegenwart reichen und hinsichtlich derer es wenig Fantasie bedarf, dass sie ebenso in die Zukunft führen werden.Mehr als andere Branchen stehen die Banken und Sparkassen im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Mehr als andere Branchen leidet das Bankwesen unter der kritischen Betrachtung seiner Aktivitäten. Institutsschieflagen und -zusammenbrüche verursachen stets einen Aufschrei in der öffentlichen Meinung, und prosperierende Geschäfte bringen die Finanzwirtschaft in die Nähe des Verdachts unternehmerischer Gier. Bisher nicht gekannter AufschreiSelbst die aufgrund teilweise exzessiver Gehälter “abgehärtete” US-Gesellschaft ließ vor kurzem einen bislang nicht gekannten Aufschrei ertönen, als das Verhältnis der Vergütung von Michael L. Corbat, dem Chief Executive Officer der Citigroup, zu der durchschnittlichen Vergütung seiner Mitarbeiter mit 486:1 bekannt wurde. Aus ihrer öffentlichen Wahrnehmung folgt für die Führungskräfte in der Finanzwirtschaft die zwingende Notwendigkeit, in besonderer Weise moralischen Ansprüchen an die sowohl persönliche als auch institutionelle Integrität zu genügen, um die ihnen de facto zugewiesene Vorbildfunktion erfüllen zu können. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit erkenntnistheoretischen und metaphysischen Herausforderungen der Ethik, also den teleologischen Etiketten von “Sein” und “Sollen”.Auch wenn die Möglichkeit einer teleologischen Ethik mit Blick auf diese logische Unterscheidung von Seins- und Sollensaussagen grundsätzlich in Frage gestellt wird, ist es aus Sicht der klassischen Position des Realismus bezüglich der Ethik, insbesondere des Naturrechts, aber gerade das Sein, aus dem das Sollen abgeleitet werden muss, da es (außer dem Nichts) zum Sein keine Alternative gibt. Weil das Gute das Seinsgerechte, also das dem jeweiligen Seienden Gerechte beziehungsweise Entsprechende ist, muss das Wesen des Seins folglich zunächst erkannt und aus ihm die Forderung des Sollens (ihm gegenüber) logisch abgeleitet werden.Es muss insofern die Frage gestellt werden, warum sich diese ethische Erkenntnis nicht generell in einer veränderten Einstellung der Verantwortungsträger niederschlägt. Und das gerade in einer Zeit, in der die Zentrifugalkräfte unserer Gesellschaft zunehmen und mehr denn je die Notwendigkeit besteht, das Integrative, das Einende zu betonen.Dass das erkenntnistheoretische System der Finanzwirtschaft vielleicht schon seit längerem auch auf einem wissenschaftlich und intellektuell falsch eingebetteten Pfad unterwegs gewesen war, zeigt sich im Rückblick möglicherweise daran, dass die moderne Finanztheorie nach Anerkennung ihres letztlich universellen Bezugspunktes mit zahlreichen Nobelpreisen ausgezeichnet worden ist. Markowitz, Miller, Modigliani oder Sharpe sind nur einige von ihnen, die der Finanzwirtschaft eine Rationalität attestierten, die den Stresstest der Realität von Krisen- und Nachkrisenzeit nicht bestanden hat. Moralische KomponenteEine Ursache liegt sicherlich darin, dass die Finanzwirtschaft neben der wirtschaftlichen, der regionalen (lokalen, nationalen oder internationalen) sowie der technischen Dimension über eine moralische Komponente verfügt, die in den letzten Jahrzehnten ihre Relevanz für die Entscheidungsprozesse verloren zu haben scheint, auch weil die sozioökonomischen Phänomene der Internationalisierung und Globalisierung sowohl den Maßstab als auch seine Durchsetzung in Frage stellen.Eine weitere Ursache liegt aber auch in der menschlichen Verhaltensweise begründet, das Leben in separate Bereiche aufzuspalten und diese, teils bewusst, teils unbewusst, voneinander abzugrenzen. Damit ist die Manifestation unterschiedlicher Erkenntnisse und Werte verbunden. Das zeigt sich beispielsweise am unterschiedlichen Umgang mit den Lebensbereichen Familie und Arbeit. So wird das Arbeitsleben häufig als vermeintlich neutraler Bereich betrachtet, in dem Fragen gesellschaftlicher Werte und damit letztlich von Ethik und Moral entweder nicht oder auf andere Art und Weise gestellt werden. Die Aufspaltung unseres Lebens in separate Bereiche hilft uns, die damit verbundenen Widersprüche in der Definition unterschiedlicher Maßstäbe zu überwinden, führt aber letztlich zu einem “Ethical Patchwork”, das seine Sollbruchstellen in sich trägt. Diese Fehler gilt es zu beseitigen, so dass die ethisch-moralische Komponente stärker als bisher bei unternehmerischen Entscheidungen berücksichtigt wird und ebenso Eingang in die Kommunikation mit Stake- und Shareholdern findet. Einstellung des EinzelnenRobert J. Shiller unterbreitete 2012 in seinem Bestseller “Finance and the Good Society” – Brücken bauend – den Vorschlag, die Finanzindustrie solle sich als Verantwortungsträger für gesellschaftliche Werte (“finance should be defined . . . as the stewardship of society’s assets”) verstehen. Es wäre die Rolle eines Vorbilds. Das mag manchem überzogen, manchem zu wenig griffig, vielleicht auch zu altruistisch vorkommen. Aber es ist wie bei allen Werten, auch im ethisch-moralischen Sinne. Es geht um die Einstellung eines jeden Einzelnen; gerade in der Führung eines Unternehmens.Alfred Herrhausen hat als nachdenklicher Vertreter unserer Praxis schon früh auf den sowohl unternehmerischen als auch ethisch-moralischen Zusammenhang von Führung und Führungsverantwortung verwiesen und beides in einem weiteren Sinne verstanden. Dabei geht es im Anschluss an den Nationalökonom Max Weber letztlich um das Problem der richtigen Balance beziehungsweise um den Unterschied zwischen einer Verantwortungsethik, die sich in erster Linie an den Folgen des gesellschaftlichen Handelns und nicht an den ideologischen Zielen orientiert, und einer Gesinnungsethik, die Handlungsabsichten, Handlungsgrundsätze und das Handeln an sich aus Überzeugungen und nicht aus Nützlichkeitsabwägungen definiert. Nähe zu Richard ThalerVerhaltensökonomisch besteht damit eine Nähe zu Richard Thaler, der im Rahmen seiner Tätigkeit an der Booth School of Business der University of Chicago den Nachweis erbracht hat, dass der in der Realität handelnde Mensch – entgegen anderslautenden ökonomischen Annahmen – eben nicht immer als homo oeconomicus agiert, und dafür vom Komitee zur Verleihung des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises, de facto frühere Entscheidungen modifizierend, 2017 ausgezeichnet worden ist. Für Überzeugungen einstehenIm Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen bedarf es hierzu – wie bei jeder unternehmerischen Entscheidung – mehr denn je des Mutes der Geschäftsleitung, sowohl verantwortungs- als auch gesinnungsethisch als Vorbild zu handeln und für die in diesem Zusammenhang notwendigen Überzeugungen einzustehen. Dabei geht es nicht um die Gewähr einer Erlaubnis zur Ausübung freien Ermessens, sondern um die Definition ethisch-moralischer Gestaltungsspielräume bei gleichzeitiger Anerkennung einer ausgeprägten Verpflichtung zur Rechtfertigung durch die Unternehmensleitung. Das gilt gerade in einer Zeit wie dieser, in der eine systemische Transformation insbesondere hinsichtlich der Rolle und Stellung der finanzwirtschaftlichen Aktivitäten und ihrer gesellschaftlichen Legitimität nicht nur durch Abstimmungsergebnisse der Hauptversammlungen festzustellen ist.Vermutlich wird es – selbstkritisch – ohne eine Überwindung des “immer mehr” nicht gehen, denn letztlich ist der weitere Zuwachs gerade systemischer Risiken, wie von zahlreichen Auguren durch Zuspruch zur Konsolidierung in der Finanzwirtschaft positiv votiert, mit der Beantwortung dieser und damit korrespondierender Fragen verbunden. Der Mut, sich zu positionieren, bedarf gleichermaßen einer intellektuellen und voluntativen Größe, einer Größe, die Vorbildern zu eigen sein sollte. Dabei wird es ohne den Anspruch, dieser Verantwortung tatsächlich entsprechend zu denken und zu handeln, nicht gehen. Es ist aus Sicht einer Gesellschaft und der uns allen obliegenden Verantwortung eben mehr, als nur das Wachstum in den Blick zu nehmen. Und es ist am Ende das, was – auch von uns Vorbildern – bleiben wird. Thomas A. Lange, Vorstandsvorsitzender der National-Bank AG