SERIE: IMMOBILIENMÄRKTE IM AUSNAHMEZUSTAND (13)

Migration und ihre Effekte auf den Wohnungsbau

Börsen-Zeitung, 19.1.2017 Im Jahre 2015 erlebten die Europäische Union und speziell Deutschland eine außerordentliche Bevölkerungswanderung. Zu einer Ausnahmesituation am Wohnimmobilienmarkt führt dies allein jedoch nicht. Zwar liegt die Versuchung...

Migration und ihre Effekte auf den Wohnungsbau

Im Jahre 2015 erlebten die Europäische Union und speziell Deutschland eine außerordentliche Bevölkerungswanderung. Zu einer Ausnahmesituation am Wohnimmobilienmarkt führt dies allein jedoch nicht. Zwar liegt die Versuchung nahe, eine solche Verbindung herzustellen, denn der Mensch benötigt nun einmal ein Dach über dem Kopf. Beim Wohnungsmarkt wirken jedoch stärkere langfristige Angebots- und Nachfragestrukturen.Werfen wir einen Blick in den Zensus 2011, dessen Fokus auf Wohnbestand und -strukturen lag. Am 9. Mai 2011 verzeichnete Deutschland demnach 40,6 Millionen Wohnungen. Zum gleichen Stichtag existierten 37,6 Millionen Wohnhaushalte. Im Schnitt bestand ein Haushalt aus 2,2 Personen, bei regionalen Differenzen zwischen Großstädten und ländlichen Regionen. 54 Prozent MieterhaushalteLeer standen 1,7 Millionen Wohnungen; bereinigt zum Beispiel um Zweit- und Ferienwohnungen lag die Leerstandsquote bei 4,4 %. Große Wohnungen etwa stehen so gut wie nie leer, bei kleinen Wohnungen ist dies selbst in Großstädten oft der Fall. 59 % der Wohnungen sind im Eigentum von Privatpersonen. Weitere 22 % gehören Wohneigentumsgemeinschaften. Die restlichen Wohnbestände halten vor allem Kommunen, Wohnungsunternehmen und Wohnbaugenossenschaften. Umgekehrt wohnen 46 % der Haushalte in den eigenen vier Wänden, und zwar hauptsächlich in Ein- und Zweifamilienhäusern. Die verbleibenden 54 % Mieterhaushalte leben hingegen weit überwiegend in Mehrfamilienhäusern.Der Eigennutzeranteil stieg in den letzten Jahren merklich an. Dies ist relevant hinsichtlich der Nachfragestruktur, da Eigennutzer meist Ein- und Zweifamilienhäuser bevorzugen. Eine Ausnahme bilden Großstädte, in denen eher Eigentumswohnungen erworben werden. Die Neubautätigkeit unterlag in den letzten beiden Jahrzehnten bei Ein- und Zweifamilienhäusern daher geringeren Schwankungen als bei Mehrfamilienhäusern. Aktuell sind die Fertigstellungszahlen bei Letzteren wieder höher. Beide Zahlen lagen 2015 bei weniger als der Hälfte des Niveaus von Anfang der 1990er Jahre. Eigentumsquote steigtDas Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) erwartet in seiner Wohnungsmarktprognose von Anfang 2015 einen weiteren Anstieg der Eigentumsquote auf circa 50 %. Zudem werden regionale Strukturen berücksichtigt sowie ein Wanderungssaldo von anfänglich 400 000 und längerfristig 200 000 Personen angesetzt. Im Ergebnis sieht das BBSR einen Bedarf von 272 000 Wohnungen pro Jahr im Zeitraum 2015 bis 2020, danach weniger. Benötigt werden mehr Wohnungen in Ein- und Zweifamilienhäusern als in Mehrfamilienhäusern; in den Großstädten verhält sich dies umgekehrt.Dem liegen allerdings Migrationsannahmen zugrunde, die zumindest im vergangenen Jahr nicht zutrafen. Auf Basis der Ersterfassung ergibt sich für jenes Jahr ein Nettozuzug von 1,2 Millionen Personen. Ein Drittel davon entfiel auf Bürger anderer EU-Staaten. Ein reger Austausch in beide Richtungen herrscht vor allem mit den osteuropäischen Mitgliedsländern. Den größten Teil der Zuzüge machen jedoch Schutzsuchende aus.Der im Dezember erschienene Migrationsbericht geht davon aus, dass 2015 insgesamt circa 850 000 Asylsuchende nach Deutschland einreisten und geblieben sind. Gegenüber der Ersterfassungszahl ist dies eine deutliche Bereinigung nach unten, denn angesichts der teilweise chaotischen Zustände war es zu Doppelregistrierungen und unerfassten Rückreisen gekommen. Aus den Strukturdaten dieser Zuzüge lässt sich abschätzen, welcher zusätzliche Bedarf an Wohnungen sich aus der Flüchtlingsaufnahme 2015 ergibt.Das hinsichtlich der Anerkennung als Flüchtling wichtigste Merkmal ist das Herkunftsland. Während die Schutzquote für Syrien bei 95 % lag, gelten zum Beispiel Albanien und der Kosovo als sichere Herkunftsländer. Der Abgleich von typischen Schutzquoten und Herkunftsverteilung der Zuzüge ergibt eine Aufnahme von circa 500 000 Flüchtlingen. Vor allem der signifikante Anteil von Minderjährigen lässt auf die damit verbundene Haushaltszahl schließen: Diese dürfte bei ca. 300 000 Wohnhaushalten liegen. Dies bedeutet zudem eine Nachfrage nach eher kleineren Wohnungen. Diese Schätzungen betrachten die Flüchtlinge des Jahres 2015 isoliert. Bestehende Wohnungsmarktprognosen wie die des BBSR beinhalten bereits eine gewisse Migration. Unerwartet sind diesem gegenüber nur zusätzliche 300 000 Personen bzw. 200 000 Wohnhaushalte.Da der Nettozuzug nicht nur aus Flüchtlingen besteht, liegt streng genommen keine kausale Verknüpfung mit einem spezifischen Neubau-Mehrbedarf gegenüber den bisherigen Prognosen vor. Die Regelungen für Schutzberechtigte sorgen vielmehr dafür, dass sich diese auch in Regionen mit hohem Leerstand verteilen. Verteilung auf BundesländerAsylantragsteller werden nach dem Königsteiner Schlüssel auf die einzelnen Bundesländer verteilt. Gemäß neuem Integrationsgesetz müssen Schutzberechtigte nach ihrer Anerkennung mindestens drei Jahre in dem Bundesland ihre Wohnung haben, dem sie anfänglich zugewiesen worden waren; Ausnahmen gibt es bei Studium und Erwerbstätigkeit.Ein Bedarf an 200 000 zusätzlichen Wohnungen anhand des Königsteiner Schlüssels verteilt ergibt, dass die zugewiesenen Haushalte in Hamburg ungefähr ein Drittel des Leerstandes ausmachen; in den westdeutschen Flächenländern ist es typischerweise ein Siebtel, in den ostdeutschen weniger als ein Zehntel. Ein Fünftel LeerstandNeu gebaut werden müssten Wohnungen im mittleren fünfstelligen Bereich, wenn diese Haushaltszahlen auf Kreise heruntergebrochen werden und ein Sockelleerstand auf dem typischen Ist-Niveau der Großstädte angenommen wird. Dies entspricht ungefähr einem Fünftel des vom BBSR ermittelten jährlichen Neubaubedarfs.Eine differenzierte Betrachtung ist ebenso relevant hinsichtlich des sinnvollen Schwerpunktes innerhalb der zukünftigen Neubautätigkeit. Ein erster Reflex könnte im Bau von speziellen Flüchtlingswohnungen bestehen. Die allgemeinen Tendenzen am Wohnungsmarkt legen jedoch andere Entwicklungen nahe. Wenn der Trend zum Eigentum intakt bleibt, stellt dies die größte Quelle von Wohnungsneubau dar. Typischerweise bedeutet dies den Umzug von kleineren Mietwohnungen in größere Ein- und Zweifamilienhäuser. Es entsteht somit tendenziell der Platz, den ein typischer Zuzugshaushalt nachfragt.Eine große Veränderung am Gesamtbild ergibt sich damit nicht. Dies betrifft ebenfalls den regionalen Aspekt: In den meisten Groß- und Universitätsstädten dürfte es weiterhin Bedarf an zusätzlichem Geschosswohnungsbau geben – eher aus vielfältigerer Nachfrage als allein oder auch nur überwiegend aus der Flüchtlingsaufnahme. Die regionale Vielfalt spricht somit für eine subsidiäre und marktorientierte Herangehensweise.Pauschale Bauprogramme würden am längerfristigen Nachfrageprofil vorbeigehen. Ein Bedarf an Wohnungsneubau besteht und hat sich 2015 über die Erwartungen erhöht. Nur zu einem kleinen Teil ist er auf Flüchtlingsaufnahme zurückzuführen. Und zu einem noch geringeren Teil sind neue Wohnungen speziell für diese Nachfragegruppe die in der Gesamtsicht geeignete Zukunftsstrategie.—-Zuletzt erschienen:- Gute Immobilien sind auch global Mangelware (18.1.) —-Prof. Dr. Leo Cremer, Lehrstuhl für mathematische Methoden in der Bau- und Immobilienwirtschaft Hochschule RheinMain