Mit den Möglichkeiten der Technik vertraut machen
“Vorwärts immer, rückwärts nimmer.” Auch wenn dieses Motto aus einer anderen Zeit und einem zum Glück abgeschlossenen Kapitel deutscher Geschichte stammt, kann es durchaus als Leitbild für den Job eines Anwalts im Umfeld des Kapitalmarkt- und Bankaufsichtsrechts dienen – oder für jene jungen Absolventen, die sich mit dem Gedanken befassen, ihre Karriere in diesem juristischen Umfeld zu machen. Denn auch ziemlich genau zehn Jahre nach der Pleite der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers und dem daraus resultierenden “Regulierungs-Tsunami” werden nationale und EU-Gesetzgeber nicht müde, neue Vorschriften ins Werk zu setzen, um – vermeintlich oder tatsächlich – Märkte, Marktintegrität, Verbraucher und Steuerzahler zu schützen.Für einen in diesem Bereich tätigen Anwalt oder eine Person, die sich künftig diesem Bereich widmen möchte und dort ihre berufliche Zukunft sieht, bedeutet das, ein Höchstmaß geistiger Flexibilität zu bewahren und – mindestens genauso wichtig – die Erinnerung an die ersten vier Semester des Studiums aufrecht zu erhalten. Je größer die Anzahl der neuen Gesetze, Verordnungen, Delegierten Verordnungen, technischen Regulierungsstandards, etc. desto geringer die Anzahl an Literatur, Verwaltungspraxis oder gar Urteilen, an denen sich die eigene Beratung orientieren kann.Es bleibt dem Rechtsexperten also nichts anderes übrig, als sich auf sein Handwerkszeug zu besinnen, das er zu Beginn des Studiums gelernt hat – und die neuen Vorschriften nach Wortlaut, Sinn und Zweck sowie vor dem Hintergrund etwaiger Vorgängervorschriften auszulegen. Dies erfordert nicht nur Genauigkeit bis hin zur Penibilität, sondern auch einen kühlen Kopf. Die anwaltliche Beratung im Zusammenhang mit großen Kapitalmarkttransaktionen oder im Hinblick auf die Einhaltung aufsichtsrechtlicher Vorschriften für Kreditinstitute ist nicht selten eine Säule von mehreren, auf die Entscheidungen von erheblicher wirtschaftlicher Tragweite gestützt werden. Dreistellige Millionen- oder gar Milliardenbeträge dürfen den Fokus auf den juristischen Kern nicht verstellen.Der Rat des Experten muss aber nicht nur fachlich richtig, sondern auch brauchbar sein. Es ist zwingend erforderlich, dass ein im Bankaufsichts- oder Kapitalmarktrecht beratender Anwalt genaue Kenntnis von den (betriebs-)wirtschaftlichen Auswirkungen seiner Hinweise und Empfehlungen hat und diese entsprechend schon bei der Erstellung des Rechtsrates berücksichtigt. Für eine sachgerechte Vorbereitung auf den angestrebten Beruf kommt es also nicht darauf an, unzählige Spezialseminare zu besuchen oder den Fokus frühzeitig und überbordend auf Spezialisierungen zu legen. Zumal über diese Wege erworbenes Wissen zum Zeitpunkt des Berufseintritts im Zweifel schon wieder veraltet sein kann. Entscheidend ist vielmehr, zu erkennen, dass das Bankaufsichtsrecht und große Teile des Kapitalmarktrechts letztlich “nur” spezielles Polizei-/Gefahrenabwehrrecht sind.Wer also die Grundsätze des Gefahrenabwehrrechts verinnerlicht hat, wird sich später im Berufsleben selbst helfen können. Es kann sicher nicht schaden, sich parallel zum Jurastudium die ein oder andere BWL- oder VWL-Vorlesung anzuhören oder weiteren Aktivitäten nachzugehen, die das selbständige Denken und Arbeiten fördern. Mehr als die halbe MieteIn aller Regel werden die Berufseinsteiger in einer Kanzlei auf ein Team von erfahrenen Spezialisten treffen, die nicht die Erwartung haben, einen neuen Kollegen zu bekommen, der ab dem ersten Tag ein herausragender Spezialist ist – sondern es wird ein guter Jurist mit wachem Geist und einem guten Schuss Wissbegierde erwartet. Wenn dieser neue Kollege es dann noch als nicht ehrabschneidend empfindet, zu Beginn der Karriere mit der gebotenen Sorgfalt Aufgaben wahrzunehmen, für die unter Umständen nicht zwingend zwei Staatsexamina benötigt werden, ist das schon mehr als die halbe Miete.Es hört sich ganz sicher atavistisch an – aber in vielen Fällen wird erst mit der Zeit sichtbar, dass diese zu Anfang vielleicht als nicht standesgemäß empfundenen Aufgaben ein unverzichtbares Fundament für den späteren Werdegang und Aufstieg bilden. Vorausgesetzt, die älteren Kollegen erklären dem Berufseinsteiger die einzelnen Handgriffe und vor allem ihren Sinn für das Gesamtprojekt. Sollte das nicht der Fall sein, besteht für den Berufseinsteiger jedes Recht, Erklärungen zum richtigen Zeitpunkt einzufordern.Dieses Plädoyer fürs Handwerkliche wird umso relevanter, je mehr Innovationen Einzug in das Kapitalmarkt- und Bankaufsichtsrecht halten. Hier wird sich – wenigstens mittelfristig – die technische Spreu vom menschlichen Weizen trennen. Nämlich, wo es darum geht, Neuland zu betreten und jene Parameter zu definieren, anhand derer der Computer in Zukunft die Kärrnerarbeit verrichten kann. Um diese Parameter bestimmen zu können, bedarf es eines juristisch fundierten Blickes auf das große Ganze. Dafür sollte man lieber den allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches und des Verwaltungsrechts wirklich verstanden, als EU-Verordnungen auswendig gelernt haben.Juristen, die programmieren können, wird es zweifellos in Zukunft geben – Stichwort “Legal Engineers”. Es stellt sich aber die Frage, ob diese Kollegen die einzig verbleibende Spezies der Juristen sein werden. Die Antwort scheint ein klares Nein zu sein, weil sich menschliches Zusammenleben nicht nur zwischen Nullen und Einsen abspielt. Die Vertreter der reinen “Blockchain”-Lehre dürften zwischenzeitlich auch erkannt haben, dass man mit der Ansicht “Blockchain knows no mercy” an die Grenzen menschlichen Verhaltens stoßen muss, das nicht immer ratio-nal ist – und eine “gnadenlose” Lösung daher oft nicht sachgerecht sein kann.Darüber hinaus wird auch in diesem Feld eine Banalisierung einsetzen. Denn auch heute muss niemand wissen, wie eine E-Mail von einem Account in den anderen gelangt, um eine eigene Nachricht verschicken zu können. Wer nicht programmieren kann oder will, sollte also lieber ein Seminar in römischer Rechtsgeschichte besuchen, als sich zum Programmieren zu zwingen oder den Kurs “Most Current Trends in European Credit Institution Regulation” zu belegen.Auch das heute oft genannte Zukunftsfeld des “Legal Tech” wird an seine Grenzen stoßen, wo es “analog” wird und beispielsweise Verhandlungstaktik gefragt ist. Gleichwohl darf man bei dieser Erkenntnis nicht stehenbleiben. Dass weitere technische Lösungen in Anwaltskanzleien Einzug halten werden, ist keine Frage des “Ob”, sondern allenfalls eine Frage des “Wann”. Dafür bieten technische Lösungen nicht zuletzt genügend wirtschaftlichen Anreiz durch Effizienzsteigerungen, als dass eine im Wettbewerb stehende Anwaltskanzlei auf ihren Einsatz verzichten kann. Berufseinsteiger haben es daher heute besonders leicht. Sie laufen nicht Gefahr, aus Sentimentalität oder anderen Gründen der vermeintlich “guten, alten Zeit” nachzutrauern, in der große Gruppen junger Associates Tag und Nacht in Datenräumen verbracht haben.Sie steigen schon in eine Arbeitswelt ein, in der Algorithmen vorsortiert haben und Juristen sich mit den verbleibenden Zweifelsfällen befassen können und im Übrigen ihre Kreativität auf Vertragsgestaltung und zukunftsgerichtete Fragestellungen verwenden können. Man kann jedem Berufseinsteiger daher nur wärmstens ans Herz legen, sich mit den Möglichkeiten der Technik vertraut zu machen, um daraus die individuellen Chancen abzuleiten. Die Technik als Bedrohung der Standesehre oder sonstiger Güter zu begreifen hieße nur, Energie zu vergeuden, die auch positiv verwendet werden kann.Als Berufseinsteiger kann man sich also, grob vereinfacht, aussuchen, ob man in der robotergestützten Produktion von Rechtsrat oder in der Manufaktur tätig sein will. Größere Kanzleien werden auch in Zukunft beides im Portfolio haben und daher auch die Möglichkeit bieten, auf der Schnittstelle zu arbeiten. Felix Biedermann, Partner in der internationalen Wirtschaftskanzlei Simmons & Simmons, spezialisiert auf die Bereiche Kapitalmarkt- und Bankaufsichtsrecht