KOMMENTAR

Mut zum Pessimismus

In der Erörterung von Missständen im Bankensektor macht den Briten seit Beginn der Finanzkrise so schnell keiner etwas vor: Ein Kommissionsbericht mit 358 Seiten zur Festigung der Kapitalbasis und zur Sicherung des volkswirtschaftlich wichtigen...

Mut zum Pessimismus

In der Erörterung von Missständen im Bankensektor macht den Briten seit Beginn der Finanzkrise so schnell keiner etwas vor: Ein Kommissionsbericht mit 358 Seiten zur Festigung der Kapitalbasis und zur Sicherung des volkswirtschaftlich wichtigen Retail Banking im Jahr 2011, nun ein Kommissionsbericht mit 571 Seiten zur Verbesserung von Ethik und Moral in den einzelnen Finanzinstituten. Allein der Umfang dieser Analysen belegt schon die Beispiellosigkeit der Krise im britischen Bankensystem.Mervyn King, der zum Monatsende aus dem Amt scheidende Gouverneur der Bank of England, sagte gestern Abend, Großbritannien könne für sich beanspruchen, Vorreiter im Lernen von Lektionen zu sein. Das stimmt in gewisser Hinsicht: Die 2010 begonnene Reform der Finanzaufsichtsstrukturen wurde gerade abgeschlossen, ein neues Finanzdienstleistungsgesetz, das die verschärften Kapitalanforderungen für Too-big-to-fail-Banken sowie Abwicklungsmechanismen im Krisenfall berücksichtigt, ist bereits auf den Weg gebracht.Doch die Gefahr, dass die Erinnerung an die Krise verblasst und der Reformeifer erlahmt, ist gerade für den Inselstaat Großbritannien, der auch in Zukunft in besonderer Weise auf den Finanzsektor angewiesen sein wird, allgegenwärtig. King warnt zum Abschied nicht von ungefähr vor Selbstgefälligkeit. Das Problem von Finanzinstitutionen, die zu groß oder wichtig sind, um zu kollabieren, müsse ein für alle Mal gelöst werden.Die Analyse der Parlamentskommission, die nach Bekanntwerden des Manipulationsskandals um Interbankenreferenzzinssätze wie dem Libor erst im Juli vergangenen Jahres eingesetzt wurde, zeigt, wo sich der Wandel der Unternehmenskultur in Großbanken befindet: noch fast am Anfang. Die Empfehlungen, die Zuständigkeit von Angestellten, die für ihre Häuser eine wichtige Rolle spielen, klar zuordnen zu können, verantwortungslos handelnden Bankern eine Gefängnisstrafe in Aussicht zu stellen sowie die Auszahlungen von Boni bis zu zehn Jahre zu verzögern, sind geeignet, den Sektor zu stabilisieren und die Ausrichtung auf den langfristigen Erfolg zu lenken.Doch ist abzuwarten, wie verbindlich solche Vorgaben am Ende ausfallen werden. Nicht zuletzt dürfte es auch darauf ankommen, mit welchem Biss die neu geordnete britische Finanzaufsicht Fehlentwicklungen nachgehen wird. Mervyn King hat Recht: Der Mut zum Pessimismus sollte nicht verloren gehen.