Neue Spielregeln für die Weltwirtschaft
Zehn Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise wird das Kapitalmarktumfeld wieder rauer. Handelsstreit, Budgetdiskussion in Italien und ein reifer Konjunkturzyklus sorgen für zunehmende Nervosität bei den Investoren. Zu Recht? Und wie sollte man darauf reagieren? Sorge um den AufschwungEiner der wichtigsten und verlässlichsten Treiber der Kapitalmärkte ist die wirtschaftliche Lage. Schwächt sich das Wachstum ab, dann sind Einbußen bei Risiko-Assets unvermeidlich. Der aktuelle Konjunkturzyklus dauert bereits seit 2009 und ist damit der zweitlängste seit dem Zweiten Weltkrieg. Daher verstärken sich die Befürchtungen, ob der Aufschwung noch weiter trägt. Und tatsächlich: Die Zeiten des synchronen weltweiten Wachstums scheinen vorbei. Zwar nimmt die globale Wirtschaftsleistung immer noch zu. Doch bei der Dynamik driften die wichtigsten Volkswirtschaften zusehends auseinander.Ein Grund für diese Entwicklung sitzt im Weißen Haus. Die Trump’sche Steuerreform hat den USA zu einer Sonderkonjunktur verholfen. Für den Rest der Welt wird es aber merklich schwieriger: Steigende US-Inflationsraten sorgen für eine restriktivere Notenbank, und das treibt wiederum die amerikanischen Zinsen in die Höhe. Verlierer sind vor allem die export- und dollarabhängigen Schwellenländer. Aber auch den übrigen Industriestaaten bläst ein kräftiger Gegenwind aus den USA entgegen, nicht zuletzt durch den von Washington forcierten Handelsstreit. Neben China zittern auch Europas und Japans Autobauer.Ein “konjunkturelles Durchatmen” wird damit immer wahrscheinlicher. Allerdings ist aktuell ein Krisenszenario – etwa im Sinne einer Rezession oder gar eines “Lehman-Moments” – unwahrscheinlich. Die Wachstumskräfte sind immer noch zu wirksam, und für deutliche Übertreibungen war der Aufschwung nicht stark genug. Für ein kräftiges Durchrütteln der Kapitalmärkte ist es aber allemal gut. Im Gegensatz zu 2008 würde dieses allerdings auf ein verändertes Umfeld treffen. In vielen Bereichen gab es erhebliche Fortschritte, allerdings haben diese teils neue Herausforderungen mit sich gebracht. Investoren müssen deshalb die Lehren aus der Vergangenheit ziehen, um auch im aktuell anspruchsvollen Umfeld Chancen nutzen zu können. Stabilisierung nach der KriseSo massiv die Finanzkrise auch war, so umfassend fiel die Reaktion darauf aus. Die Jahre von 2008 bis 2018 waren gekennzeichnet von erfolgreichen Stabilisierungsmaßnahmen. Auf nahezu allen Ebenen wurden erhebliche Fortschritte erzielt. Die Bankenregulierung wurde verschärft und die Kapitalpolster der Geldhäuser gestärkt. Heute sind die Kreditinstitute trotz einzelner Ausreißer deutlich besser und stabiler aufgestellt als noch vor zehn Jahren. Der US-Immobilienmarkt, der Auslöser der letzten Krise, ist weit entfernt von den Schieflagen früherer Jahre.Die Notenbanken, früher ausschließlich die Garanten von Preisstabilität, interpretieren ihre Rolle seit der Finanzkrise deutlich umfassender. So wurde der Auftrag der EZB um die Bankenaufsicht und die makroprudenzielle Überwachung, also die Ermittlung von Risiken für das Finanzsystem als Gesamtheit, erweitert. Neue, bis dato unbekannte oder ungetestete Instrumente kamen zum Einsatz und dürfen mittlerweile als erprobt und bewährt angesehen werden. Die Währungshüter haben sich zum “Retter der letzten Instanz” entwickelt und stellen damit heute einen wichtigen Stabilisator für Weltwirtschaft und Kapitalmärkte dar.Aber nicht alle Probleme sind gelöst. Beispiel Verschuldung: Tatsächlich wurde die Kreditbelastung im Epizentrum der Krise, also beim US-Verbraucher, deutlich reduziert. Auch viele Staaten haben ihre Lektion gelernt und ihre Haushalte, oftmals unter hohen Schmerzen, konsolidiert. In Europa ist die Schuldentragfähigkeit von privaten Haushalten und Unternehmen heute deutlich höher als vor der Finanzkrise.Aber global betrachtet ist die Höhe der Gesamtverschuldung nicht zurückgegangen, sondern erheblich gestiegen. Weltweit liegt sie mittlerweile bei 247 Bill. Dollar oder 318 % der Weltwirtschaftsleistung. Besonders betroffen sind US-amerikanische Unternehmen sowie der gesamte private Sektor in China. Es ist kein Zufall, dass vor allem diese beiden Bereiche hervorstechen. Hier wie dort wurde die Krise massiv durch die Zentralbanken bekämpft. Lockere Finanzierungsbedingungen haben dazu geführt, dass die Unternehmen sich günstig verschulden konnten. Zinsanstieg birgt RisikenDieser Effekt war gewollt, birgt aber nun in einer Zeit langsam steigender Zinsen Gefahren. Klettern die Fremdkapitalkosten, drohen schwache, bislang durch günstiges Geld am Leben erhaltene Unternehmen schnell an die Grenzen ihrer Belastbarkeit zu stoßen. Zwar ist eine Kettenreaktion Lehman’schen Ausmaßes nicht zu befürchten. Dafür ist das Bankensystem mittlerweile zu stabil, die Aufsicht zu aufmerksam und die Zahl der Problemfälle im globalen Kontext zu gering. Aus Investorensicht ist diese Entwicklung aber dennoch ein Alarmsignal, weil die Ausfallrisiken bei einer wachsenden Zahl von Emittenten steigen.Das betrifft vor allem den Unternehmenssektor, dessen Anleihen in den vergangenen Jahren zum Liebling vieler Anleger avancierten. Neben der hohen Verschuldung in einigen Bereichen mahnt besonders die gesunkene Handelbarkeit der Papiere zur Vorsicht. Durch regulatorische Eingriffe ist der Eigenhandel der Banken teuer und damit geschäftspolitisch uninteressant geworden. Gerade am Rentenmarkt hat dies dazu geführt, dass die Broker in Stressphasen kaum noch Liquidität bereitstellen können. Das hat im Krisenfall weitreichende Konsequenzen. Wollen nämlich viele Investoren ihre Bestände abbauen, fällt die Gegenseite weitgehend aus. Die Abwärtsdynamik droht sich dadurch zu verstärken, und es kann durch Ausweichmanöver der Investoren zu Abstrahleffekten auf zunächst nicht betroffene Segmente der Finanzmärkte kommen. Fokus auf HandelbarkeitDieses Risiko müssen Anleger viel stärker beachten. Bereits bei der Investitionsentscheidung sollte die Risikotragfähigkeit mitberücksichtigt werden, gerade unter dem Blickwinkel der Handelbarkeit von Wertpapieren. Wenn im Krisenfall alle “durch die gleiche Tür” wollen, ist es für umfangreiche Portfolioanpassungen zu spät. Was vor Lehman die Komplexität vieler Finanzprodukte war, ist heute deren mangelnde Handelbarkeit.Die Kapitalmärkte sind also nicht frei von Herausforderungen, im Gegenteil. Dabei zwingt die Erfahrung aus vorangegangenen Abschwungphasen, die aktuellen Gegebenheiten durch ein fein abgestimmtes Risikoraster zu betrachten und dann auch die richtigen Schlüsse für das eigene Anlageverhalten zu ziehen:Erstens entwickelt sich die weltweite Verschuldung zunehmend zum Risikofaktor. In einer Welt langsam anziehender Renditen stellt die schiere Höhe der Verschuldung ein Problem dar. An einer sorgfältigen, umfassenden und vor allem eigenständigen Bonitätsbewertung von Emittenten führt daher für Investoren kein Weg vorbei. Sich auf externe Ratingagenturen zu verlassen, reicht spätestens seit Lehman nicht mehr.Zweitens geht das goldene Zeitalter an den Rentenmärkten zu Ende. Bei sicheren Anleihen ist diese Erkenntnis mittlerweile Allgemeingut, aber sie trifft auch auf Anlagen mit Renditeaufschlag, sogenannte Spread-Produkte, zu. Diese Subsegmente wie Unternehmensanleihen oder Emerging-Markets-Papiere waren in der Vergangenheit verlässliche Renditebringer. Jetzt steigen die Risiken. Nicht nur die höhere Verschuldung vieler Emittenten, sondern auch der Wegfall preisunempfindlicher Käufer (wie der Zentralbanken bei europäischen Corporate Bonds) sowie das niedrige Renditeniveau lassen die Performancerisiken wachsen. Zwar gibt es nach wie vor Chancen. Aber der Druck nimmt zu, die Papiere sorgfältig auszuwählen.Drittens kommt der Handelbarkeit einer Anlage eine viel größere Bedeutung zu als noch vor wenigen Jahren. Die Liquiditätsproblematik wird unterschätzt, entsprechend fallen die von Investoren für illiquide Investments verlangten Prämien zu niedrig aus. Diese Faktoren müssen im Investmentprozess stärker berücksichtigt werden. Zudem sollte das fortlaufende Monitoring der Liquiditätslage fester Bestandteil des Risikomanagements sein. Protektionismus bremstViertens dauert kein Zyklus ewig. Geld- und Fiskalpolitik können die Konjunktur stützen, aber irgendwann kommt auch für den längsten Aufschwung das Ende. Investoren sollten also nicht auf einen “immerwährenden Investmentsommer” setzen, sondern Schlechtwetterperioden einkalkulieren. Das gilt umso mehr, als zunehmender Protektionismus die Globalisierung – einen wesentlichen Wachstumstreiber – auszubremsen droht.Doch auch wenn das Kapitalmarktumfeld mit Blick auf die kommenden Monate nicht frei von Herausforderungen ist, so sind die strukturellen Voraussetzungen für langfristig robuste, aufstrebende Kapitalmärkte intakt. Die Investmentwelt ist heute eine bessere als noch vor zehn Jahren. Wer aber die Lehren der Vergangenheit nicht zieht und sich auf die neuen Spielregeln einstellt, wird die Chancen nicht nutzen können.—-Jens Wilhelm, Mitglied des Vorstands von Union Investment