IM INTERVIEW: CRAIG PIRRONG, GLOBAL ENERGY MANAGEMENT INSTITUTE

"Nicht allzu sehr auf zentrales Clearing verlassen"

Der Handelsplattformenexperte über Fragen des Risikomanagements von zentralen Kontrahenten, das Brexit-Votum und die Regulierung im Clearingmarkt

"Nicht allzu sehr auf zentrales Clearing verlassen"

– Herr Pirrong, Anfang nächster Woche dürfte die EU ihren Gesetzesvorschlag für den Abwicklungs- und Sanierungsrahmen für zentrale Kontrahenten (CCP) vorlegen. Wie weit ist die Clearing-Regulierung eigentlich in den USA?Die Arbeit ist im Gang, genauso wie in Europa. Das Flugzeug ist gestartet, nun sind die Verantwortlichen damit beschäftigt, Fallschirme während des Flugs zu verteilen, würde ich sagen.- Ein diesbezüglicher EU-Entwurf sah bisher nicht vor, die Aufsicht in jedem Fall bei einem einzigen supranationalen Aufseher zu bündeln. Was halten Sie davon?Wenn es CCP gibt, die über verschiedenen Jurisdiktionen hinweg arbeiten, kommen zwangsläufig Fragen der Koordination in Abwicklung und Auflösung auf. Etwa, wenn der sogenannte “Default Waterfall” (vgl. Text unten, die Red.) erschöpft sein sollte, also sämtliche Sicherheiten und Reserven, die im Fall der Insolvenz eines Handelsteilnehmers liquidiert werden können und Verluste tragen. Hier besteht die Möglichkeit von Koordinationsmängeln sowie von störenden politischen Konflikten. Theoretisch wäre es wünschenswert, eine einheitliche Stelle für die Aufsicht der Clearinghäuser zu haben, aber ich stelle fest, dies ist politisch nicht umsetzbar.- Wäre das Krisenmanagement in einem einheitlichen Rechtsrahmen einfacher zu handhaben?Auf jeden Fall. Die US-Notenbank Fed, das Treasury und die Commodity Futures Trading Commission – CFTC – haben bereits eine Struktur geschaffen, um eine Krise zu managen. Es würde nicht ein vergleichbares politisches Konfliktpotenzial wie in Europa geben. In Europa kommt erschwerend hinzu, dass nach dem Ausgang des Brexit-Referendums Unsicherheit besteht und dies die Situation noch komplizierter macht.- Worauf spielen Sie hier an?Es gibt eine Auseinandersetzung darüber, wo Euro-denominierte Kontrakte gecleart werden dürfen und ob dies außerhalb der Europäischen Union erlaubt ist. Mit der Fusion von LSE mit Deutscher Börse könnte dieses Geschäft nach Frankfurt wandern. Das Euro-Clearing wird ein zentraler Punkt in den Brexit-Verhandlungen sein. Frankreich hat bereits klargemacht, dies müsse innerhalb der EU und der Eurozone stattfinden. Die Briten sehen das anders. Der zweite Punkt ist, dass die Abwicklung des Clearinghauses komplizierter ist, wenn Großbritannien außerhalb der politischen Struktur der EU ist. Das wird eine Herausforderung.- Es gibt zwischen Drittstaaten und der EU ja auch Äquivalenzvereinbarungen. Die Aufsicht des jeweiligen Staates gälte dann als konform mit EU-Vorgaben.Das stimmt, das sagen auch die Briten. Aber selbst wenn Äquivalenz erteilt ist, bleibt offen, wie die britischen Behörden und die EU sich abstimmen würden, wenn LCH in Schwierigkeiten geriete. Wie würde diese Struktur aussehen, wenn dies nicht unter dem gleichen supernationalen Rahmen stattfindet?- Sie sagen, Clearing führe zur Umverteilung von Risiken und Verlusten, da es im Insolvenzfall Gläubiger aus Derivatetransaktionen gegenüber anderen Gläubigern bevorzuge (vgl. Grafik, Anm. d. Red.).Dies wird den Aufsehern wieder bewusster. Früher waren die Regulierer wesentlich skeptischer eingestellt, was sogenannte Netting-Vereinbarungen anbelangt – also das Verrechnen von Forderungen und Verbindlichkeiten zwischen verschiedenen Gegenparteien, also einen der zentralen Vorteile, die Clearinghäuser versprechen.- Was in puncto Systemstabilität heute das Gebot der Stunde ist, wurde früher anders beurteilt?Insofern, als die Aufseher befürchteten, ein Netting benachteilige die Gläubigerseite – übrigens inklusive Einlagensicherungsfonds für die Banken. In der Vergangenheit waren die Aufseher eher misstrauisch, was die Beteiligung von Banken an Netting-Agreements betraf. Aber darauf ist während der laufenden Diskussion über die Regulierung zentraler Gegenparteien kaum hingewiesen worden. Netting stellt heute einen sozialen Gewinn dar und nicht eine Umverteilung von Verlusten.- Gibt es in der Forschung dazu einen Konsens oder nicht?Da gibt es noch keinen Konsens. Die Marktteilnehmer erkennen langsam, dass die Vorteile übertrieben und die Nachteile bagatellisiert wurden. Es gibt eine wachsende Anerkennung, dass Clearinghäuser neue Risiken geschaffen haben, ebenso wie sie Risiken verringert haben.- Können Sie konkreter werden?Die Risiken zeigen sich am Beispiel des Londoner Clearinghauses LCH nach dem Brexit-Votum. Während der Auszählung der Stimmen und danach fluktuierten die Preise auf den Märkten stark, und LCH rief sukzessive große Einschusszahlungen von den Banken ab. Der Brexit hat in Europa eine Miniliquiditätskrise verursacht. Eine Reihe von Terminbörsenmaklern, die mit der zentralen Gegenpartei direkt handeln, waren darüber ziemlich verärgert.- Die Zentralbanken und der Markt waren doch vorbereitet.Das ist genau der Punkt. Die Akteure waren alle vorbereitet. Was aber, wenn etwas wirklich Überraschendes passiert? Wir sind immer noch auf die Zentralbanken angewiesen, um Liquidität so managen zu können, dass eine systemische Krise im Zusammenhang mit Clearing vermieden werden kann. Damit unterscheidet sich die Situation heute nicht so stark von früheren Krisen, wo Zentralbanken eingreifen mussten, um sicherzustellen, dass die Banken genügend Liquidität zur Verrechnung von Over-the-Counter-Geschäften haben.- Die Clearinghäuser verweisen auf ihre risikominimierenden Sicherheitsnetze. Sie vergleichen diese sogenannten Default Waterfalls mit der Eigenschaft von forderungsbesicherten Wertpapieren – Collateralized Debt Obligations.Ja, CDOs wurden vor der Finanzkrise so strukturiert, dass deren Senior-Tranchen ein Tail-Risiko übernehmen, also ein Wertrisiko, wenn sich der Marktwert der zugrunde liegenden Vermögenswerte um mehr als drei Standardabweichungen vom Mittel verändert. Diese Senior-Tranchen würden nur dann getroffen, wenn der gesamte Markt einbrechen würde, also wenn es zu einer Art systemischem Ereignis kommt.- Was hat dies mit dem Default Waterfall zu tun?Beim Default Waterfall handelt es sich um eine identische Situation. Die Garantiefonds des Clearinghauses würden nur im Fall eines breiten Markteinbruchs getroffen. Der Garantiefonds ist aufgrund seiner Konzeption inhärent mit der Senior-Tranche eines CDO vergleichbar und trägt in normalen Marktphasen grundsätzlich nur ein geringes Systemrisiko. Die großen Banken, die Zusagen für diesen Fonds abgegeben haben, werden wohl nur zur Zahlung verpflichtet, wenn es eine systemische Krise gibt und wenn die Banken auch anderswo unter Stress stehen.- Wie ließe sich dieses Risiko verringern?Es gibt darauf keine einfache Antwort, da dies eine Eigenschaft ist, die in der Natur des Clearings selbst liegt. Ich habe keine Lösung, außer den Marktteilnehmern zu empfehlen, dass sie sich nicht allzu sehr auf zentrales Clearing verlassen. Je mehr sich ein Akteur darauf verlässt, umso größer wird auch der Garantiefonds, und umso größer der CDO-Effekt.- Unternehmen wie Energiekonzerne erhalten zunehmend einen direkten Clearingzugang. Wie beurteilen Sie dies?Das ist eine Ausweichlösung, um unbeabsichtigte Effekte aus der Bankenregulierung, aus der Leverage Ratio – der Verschuldungsquote – zu umgehen. So wie die Bankenregulierung derzeit interpretiert wird, müssen Einschussverpflichtungen für Bankkunden bei der Berechnung der Leverage Ratio wie Bank-Aktiva behandelt werden. Damit ist es für die Banken sehr kapitalintensiv geworden, Clearingdienste anzubieten und Sicherheiten für Einschussverpflichtungen der Kunden zu stellen, auch wenn diese Verpflichtungen segregiert – also auf eigenen Konten abgegrenzt – sind.- Ist dies von den Aufsichtsbehörden thematisiert worden?Nein, ich glaube nicht, dass dies ausreichend gewürdigt wird. Ich würde vorschlagen, die Leverage Ratio anders zu berechnen, also segregierte Kundengelder aus der Berechnung der Verschuldungsquote der Banken auszuklammern.- Nun gibt es auch Marktakteure, die Einschusspflichten in Krisen am liebsten aussetzen möchten.Sollten Änderungen in einer Krisenlage vorgenommen werden, könnten Marktteilnehmer auf die Idee kommen, es spitze sich eine Krise zu. Es käme zur Beschleunigung der Krise statt zu einer Verringerung. Deswegen wäre es kontraproduktiv, geltende Mechanismen für Einschussverpflichtungen plötzlich zu ändern.- Welche Rolle spielen unter Systemrisikoaspekten die Kredite, die zentrale Kontrahenten von Settlement-Banken erhalten?Hier entsteht ein mögliches Risiko, das nur in eine Richtung durchschlagen würde – auf die zentrale Gegenpartei und letztlich auch auf die Clearingmitglieder. Dort könnte ein Teufelskreis entstehen. Sollte die Settlement-Bank in Schwierigkeiten geraten, hätte der zentrale Kontrahent, der Liquidität braucht und auf eine Kreditlinie von der Settlement-Bank zurückgreifen will, ein hohes Risiko zu tragen. Das Beispiel zeigt, dass es offensichtlich nicht so ist, dass zentrale Kontrahenten die Interkonnektivität im Finanzsystem verringern. Sie verringern sie an einigen Stellen, aber zugleich bilden sie auch neue Verbindungsrisiken.- In der Deutschen Börse gehören Settlement-Bank und zentraler Kontrahent zur gleichen Gruppe. Ein Vorteil?Ja, das sehe ich so. Es gibt die Möglichkeit eines Kollapses in der Koordination, und dieses Risiko ist in einer Gruppe natürlich minimiert. Sollte sich die Settlement-Bank im Krisenfall weigern, Margin-Zahlungen an den zentralen Kontrahenten freizugeben, wäre dies weniger ein Problem, wenn beide Einheiten unter dem gleichen Dach arbeiten. Die US-Notenbank Fed hat übrigens genau deswegen interveniert und erklärt, dass die Settlement-Banken das zu tun haben, was die zentralen Gegenparteien der Terminbörsen wie der CME in Stressphasen verlangen.- Was hat es mit einem “Run on Repo”, also der Jagd nach Wertpapieren, die von Clearingteilnehmern an Gegenparteien ausgeliehen worden sind, auf sich?Eine Abwicklung von Transaktionen über eine zentrale Clearingstelle ist generell stärker liquiditäts- und sicherheitenintensiv. Im Over-the-Counter-Handel gab es früher Kreditvereinbarungen zwischen den Handelspartnern. Nun, da für Derivate die Clearingpflicht gilt, sind solche Kreditvereinbarungen nicht mehr erlaubt, aber die Transaktionspartner gehen andere Vereinbarungen ein.- Ein Beispiel, bitte.Ein Pensionsfonds sagt, er brauche für das Clearing bestimmter Positionen verpfändbare, also qualitativ hochwertige Sicherheiten. Der Pensionsfonds, der ja auf eine bestimmte Rendite angewiesen ist, will aber nicht niedrig rentierende hochqualitative Sicherheiten vorhalten. So wird er seine höher rentierenden, als Sicherheiten ungeeigneten Wertpapiere an eine Bank ausleihen, um dafür im Austausch verpfändbare Sicherheiten zu erhalten. Das nennt sich Collateral Transformation. In normalen Zeiten mag das gut funktionieren, doch was geschieht, wenn in einer Krise die nicht verpfändbaren Sicherheiten zurückverlangt werden? In der letzten Krise geschah dies auch – es braucht also eine Menge zusätzlicher Liquidität.—-Das Interview führte Dietegen Müller.