IM INTERVIEW: KLAUS-PETER NAUMANN, IDW

"Nicht dauerhaft zuschauen"

Rechnungsprüfer plädieren für mehr Klarheit über Differenz zwischen Buch- und Marktwert einer Aktie

"Nicht dauerhaft zuschauen"

Weichen Börsen- und Buchwert einer Gesellschaft stark voneinander ab, können Vorstand und Aufsichtsrat eines Unternehmens “einer solchen Situation nicht dauerhaft zuschauen”, findet Klaus-Peter Naumann, Vorstandssprecher des Instituts der Wirtschaftsprüfer (IDW). Im Interview erklärt er warum. Herr Professor Naumann, der Aktienkurs der Deutschen Bank beträgt nicht einmal mehr ein Viertel des Buchwertes. Im Falle der Commerzbank ist es nur wenig mehr. Da muss doch eine Seite unrecht haben – der Markt oder die Prüfer.Sie verstehen bitte, dass ich mich nicht zu konkreten Einzelfällen äußern kann und möchte. Allgemein gilt: Für den bilanziellen Buchwert sind erst einmal nicht die Prüfer verantwortlich, sondern das Unternehmen, das seinen Abschluss aufstellt. Dessen Vorstand muss bei Aufstellung des Abschlusses die geltenden Bilanzierungsregeln berücksichtigen. Die Prüfer müssen überwachen, ob das der Fall ist.Selbstverständlich prüfen wir die Einhaltung der relevanten Bilanzierungsregeln, aber aus der Differenz zwischen dem Marktwert und dem Buchwert des Eigenkapitals kann man nicht auf eine Fehlanwendung der Bilanzierungsregeln schließen. Wie kommt denn die Diskrepanz zustande, dass eine Bank meint, ihre Aktien seien 100 % des Buchwerts wert, der Markt ihnen aber weniger als ein Viertel davon zugesteht?Man kann den Unterschiedsbetrag zwischen Buchwert und Börsenwert aufteilen: zum einen in den sogenannten Gegenwartswert und zum anderen in das Zukunftspotenzial, also über den Gegenwartswert hinausgehende Wachstumserwartungen. Der Gegenwartswert ist dabei nichts anderes als der Barwert einer ewigen Rente, der sich ermittelt aus dem nachhaltigen Ergebnis und den individuellen Eigenkapitalkosten eines Unternehmens. Wenn die Aktionäre davon ausgehen, dass die Wachstumserwartungen negativ sind, dann werden sie das in ihrer Preisfindung für die Aktien berücksichtigen. Wenn das Management das Geschäftsmodell überdenkt, hat es Erwartungen, wie der Gegenwartswert des Unternehmens nach Anpassung des Geschäftsmodells aussieht. Die Anpassung des Geschäftsmodells löst aber auch Kosten aus, unter anderem Restrukturierungskosten. Diese Restrukturierungskosten dürfen nach den internationalen Bilanzierungsregeln erst dann als Rückstellung, die das Buchvermögen mindert, berücksichtigt werden, wenn entsprechende Maßnahmen hinreichend konkretisiert, also eingeleitet und verbindlich geworden sind. Das heißt, die Börse handelt stärker die Zukunft und nimmt Kosten der Restrukturierung vorweg.Die Restrukturierungsbelastung ist nicht das Einzige, was die Börse beschäftigt. Aber es ist richtig: Die Börse handelt zukunftsorientiert. Die Rechnungslegung dagegen ist grundsätzlich vergangenheitsorientiert, das heißt zum Beispiel, wenn ein Unternehmen eine Restrukturierungsrückstellung bildet, dann muss diese Restrukturierungsmaßnahme in der Vergangenheit bis zum Bilanzstichtag konkret beschlossen und mit den Sozialpartnern vereinbart sein. Woher kommt diese restriktive Haltung mit Blick auf Restrukturierungsrückstellungen?In der Welt des HGB und der IFRS hat man für die Passivseite der Bilanz festgelegt, dass eine Schuld nur dann angenommen wird, wenn ein Dritter von dem bilanzierenden Unternehmen zum Abschlussstichtag eine Zahlung oder eine Handlung erzwingen kann, die zum Abfluss von Finanzmitteln führt. Es muss einen durchsetzbaren Anspruch geben. Solange aber eine Restrukturierungsmaßnahme nicht konkret beschlossen worden ist, gibt es solche durchsetzbaren Ansprüche nicht. Das ist die Begründung aus den Rechnungslegungsregeln. Und der praktische Grund?Dass man in der Vergangenheit sehr oft beobachtet hat, dass solche Restrukturierungsrückstellungen aus bilanzpolitischen Gründen und in unzutreffender Höhe gebildet worden sind. Zu niedrig?Auch, aber oft auch zu hoch. Daran denkt man typischerweise nicht. In M&A-Transaktionen und sehr häufig nach einem Wechsel von Vorstandsvorsitzenden beobachtete man aber einen hohen Anstieg von Restrukturierungsrückstellungen. Da kommt Manager A, löst Manager B ab und bildet erst einmal hohe Restrukturierungsrückstellungen. Um einen günstigen Basiseffekt zu schaffen.Und dafür macht man die Vorgänger verantwortlich. Anschließend greifen die mit der Restrukturierung verbundenen Einsparungen, oder man hat sogar geringere Restrukturierungskosten als geplant, hat aber den hohen Aufwand antizipiert und bringt so ein gutes Ergebnis zustande. Weil man so ein toller Manager ist.Ähnliche Situationen sind vorstellbar, wenn man Unternehmensteile kauft. Je mehr Restrukturierungsaufwendungen ich zum Zeitpunkt des Erwerbs eines Unternehmens bilde, umso positiver stellt sich der Unternehmenskauf nachträglich dar. Man fragt sich ja immer, ob es nicht von besonderer Vorsicht zeugt, wenn man besonders hohe Restrukturierungsrückstellungen bildet. Diese Beispiele zeigen indessen, dass man auch mit zu hohen Restrukturierungsrückstellungen Politik machen kann. Deshalb bemüht sich der Standardsetzer um eine Objektivierung. Nicht immer geht es aber um eine Restrukturierung, die vorweggenommen wird. Die Commerzbank etwa hat die Kosten ihres Umbaus längst verarbeitet. Und dennoch klafft zwischen den Buch- und Börsenwerten beider großen deutschen Privatbanken seit Jahren eine riesige Lücke. Kann das ewig so gehen, oder muss man sich als Bank oder als deren Prüfer nicht doch irgendwann überlegen, ob man den Buchwert entsprechend anpassen muss?Zur Veränderung des Buchwerts gibt es zwei Möglichkeiten: Das eine ist die Restrukturierungsrückstellung, für die ich eine entsprechende Verpflichtung brauche, wie eben skizziert; das andere ist die Abschreibung von Aktiva. In diesem Fall muss ich aber auch Pläne und Vorstellungen zur Verwertung der Aktiva haben. Ich muss mir anschauen, ob die einzelnen Aktiva überhaupt bewertungsfähig sind und ob ich erwartete Verluste, die auch hinreichend konkretisierbar sein müssen, einzelnen Aktiva zurechnen kann. Etwas anderes wäre es, wenn ein Geschäfts- oder Firmenwert aktiviert ist. Da stehe ich dann eher vor der Frage, ob ich diesen Geschäfts- oder Firmenwert abschreiben muss. Hier schließt sich auch wieder der Kreis: Eine negative Differenz zwischen Buchwert und Marktkapitalisierung gilt zumindest als Anhaltspunkt, dass eine Wertminderung des Geschäfts- oder Firmenwertes vorliegt, was der Bilanzierende und natürlich auch der Wirtschaftsprüfer näher untersuchen muss. Sofern die Börse diesen Firmenwert deutlich skeptischer beurteilt als ein Unternehmen.Ja. Stark differierende Börsen- und Buchwerte werden sich im Ablauf der Zeit aufeinander zu bewegen, aber dies vor allem deshalb, weil Vorstand und Aufsichtsrat eines Unternehmens einer solchen Situation nicht dauerhaft zuschauen können. Warum nicht?Die zuständigen Unternehmensorgane müssen sich in diesem Fall überlegen, was mit ihrem Geschäftsmodell passieren soll und wie sie sich zukunftsfähig aufstellen. Und in dem Moment, in dem sie dazu eine Entscheidung getroffen haben, bilden sich die Folgen dann auch in der Bilanz ab. Das hieße, ein Emittent kann eine solche Diskrepanz nicht unbegrenzt durchhalten.Ja, wobei dies in erster Linie nicht ein Thema des Durchhaltens von Rechnungslegungsanforderungen ist, sondern eher eine Frage des Durchhaltens des Geschäftsmodells. Stören Sie sich als IDW-Vorstandssprecher an solchen Diskrepanzen? Sehen Sie gar die Glaubwürdigkeit der Bilanzierungsregeln in Gefahr?Ich denke, die Experten wissen, dass wir mit der klassischen Bilanzierung nicht die Bewertung eines Unternehmens am Markt vorwegnehmen können. Die Bilanz liefert den Marktteilnehmern Informationen über die aktuelle Aufstellung eines Unternehmens. Dessen Zukunftschancen einschätzen muss letztlich jeder einzelne Investor für sich, und diese Einschätzungen zusammengenommen bilden letztlich den Börsenwert. Wir würden uns aber wünschen, dass wir mit den Standardsetzern eine Diskussion darüber führen, wie man der Öffentlichkeit eine Differenz zwischen Buch- und Marktwert besser erklären kann. Damit hohe Buchwerte nicht wie aus der Luft gegriffen aussehen.Diese Diskussion ist ja nicht nur relevant, wenn der Marktwert unter dem bilanziellen Eigenkapital liegt, sondern ebenso, was ja der Regelfall ist, wenn es umgekehrt ist. In dieser Frage zu einer standardisierten Darstellung zu kommen mit dem Ziel einer Überleitungsrechnung, einer Erläuterung, auf welche Annahmen und Unterschiede man die Differenzen zwischen Buch- und Marktwert zurückführen kann: Das wäre eine sehr wertvolle Fortentwicklung der Rechnungslegungsregeln. Es wäre eine belastbare Information für Ihre Frage. Diese Information müsste das Management des Unternehmens geben. Die Öffentlichkeit kann dann darüber nachdenken, ob sie vom Wirtschaftsprüfer ein Urteil zu einer solchen Überleitungsrechnung haben möchte. Ohne Überleitungsrechnung können die Stakeholder nur selbst herausfinden, was die Gründe für die Differenzen sind. Sind Sie mit Ihrem Vorhaben schon vorangekommen beim International Accounting Standards Board?Nein. Wir haben unseren Vorschlag, eine solche Überleitungsrechnung zu entwickeln, erst im vergangenen Jahr gemacht. Wir tragen das jetzt dem internationalen und dem deutschen Standardsetzer vor und wollen auch die Community einladen, eine solche Diskussion zu führen. Eigentlich müsste das IASB eine solche Initiative doch begrüßen, denn die internationalen Rechnungslegungsstandards gelten doch als stärker an Marktpreisen orientiert als das Handelsgesetzbuch.Ich könnte mir vorstellen, dass man damit in der IFRS-Welt auf Resonanz stößt. Man hat im IASB jetzt noch eine ganze Reihe an Projekten zu erledigen. Bald aber dürften die großen Bilanzierungsprojekte des IASB abgeschlossen sein, und dann wird sicherlich mehr Raum sein, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen. Das Interview führte Bernd Neubacher.