Nicht weniger als eine Revolution

Digitaler Wandel verlangt neues Denken, weniger Hierarchie, mehr Schnittstellen

Nicht weniger als eine Revolution

Leon und Marie sind acht Jahre alt, aber sie waren noch nie in einem Kino. Sie haben auch noch nie einen kompletten Film vom Anfang bis zum Ende angeschaut. Alles, was sie an Filmen kennen, beschränkt sich auf Ausschnitte, “Höhepunkte”, kleine Clips, die sie sich auf dem Handy oder Tablet anschauen. Die Pädagogen des Deutschen Filminstituts in Frankfurt führen deshalb Kinder in ein Kino. Das Licht geht aus, der Vorhang öffnet sich. Die Kinder dürfen jetzt nicht mehr schwätzen, sie schauen sich einen Film an, lassen sich gefangen nehmen von einer Handlung, die sich erst allmählich entwickelt.Wird man Leon und Marie in ein paar Jahren auch in eine Bankfiliale führen müssen, um ihnen zu erklären, wie hier alles funktioniert? Und dass man hier sogar mit richtigen Menschen sprechen kann, die einem vielleicht einen guten Rat geben? Gut möglich.Denn das Tempo der digitalen Veränderung ist viel rapider als unsere Lerngeschwindigkeit. Die analoge und die digitale Welt entfernen sich voneinander, aber überlappen und durchdringen sich auch. Wir erahnen nur die Zukunftsveränderungen, wir können sie nicht vorhersagen. Aber die Dimensionen dessen, was sich ändern wird, werden uns klar, wenn wir allein auf die letzten 20 Jahre zurückblicken. Briefe schreiben? Wir tun es inzwischen eher selten, denn Mails sind tausend Mal schneller und bequemer. Im Lexikon nachschlagen, wo Turkmenistan liegt und wie viele Einwohner es hat? Es liegt zwischen Iran und Usbekistan und hat 6,7 Millionen Einwohner. Das erfahren wir innerhalb von zehn Sekunden bei Google. In die Filiale der Volksbank fahren, um die Rechnung für den Dachdecker zu überweisen? Machen wir daheim am Computer, in einer Minute. Kunden heute WandererWir als Bank wissen längst, dass unsere Kunden zu Wanderern zwischen der analogen und der digitalen Welt geworden sind. Mit sehr unterschiedlichen Schwerpunkten. Der eine will doch noch den Kontoauszug schwarz auf weiß lesen und abheften, der andere empfände es als Zumutung, keinen elektronischen Briefkasten zu haben. Die einen heben ihr Geld an der Kasse in der Filiale ab, um mit dem seit Jahren vertrauten Kassierer ein bisschen zu plaudern. Die anderen ärgern sich, dass noch kein gemeinsamer Drive-Through von Volksbank und Schnellrestaurant gleichzeitig Bargeld und einen Burger aushändigt. Routinetätigkeiten wie Finanzstatus checken, Umsätze kontrollieren und Überweisungen tätigen erledigen auch ältere Kunden längst digital.Manche schauen per Smartphone am Tag sieben Mal auf ihr Konto. Wir wissen nicht, warum. Wir wissen auch nicht, ob das immer sinnvoll ist. Aber das muss uns egal sein. Denn wir tun bei der Frankfurter Volksbank seit 155 Jahren nahezu alles, was unsere Kunden wollen. Allerdings müssen wir noch viel intensiver herausfinden, was das schon heute ist. Vor allem müssen wir in Erfahrung bringen, was unsere Kunden von morgen von uns verlangen werden. Das sind diejenigen, die sich heute nicht nur auf Facebook, Instagram, Twitter und Snapchat mitteilen und informieren. Sondern sich im Internet auf Portalen wie reddit.com, pinterest.com, badoo.com, twoo.com, deviantart.com … tummeln. Wir können nur vage Vermutungen darüber anstellen, wie diese virtuellen Erfahrungen die Menschen prägen und wie all das auch die Anforderungen und Wünsche dieser jungen Menschen an uns verändern wird.In jedem Fall werden sie Schnelligkeit und Effektivität von uns fordern, wie sie im Internet sofort alles wegklicken, was sich nicht auf den ersten Blick erschließt oder langweilig wirkt. In jedem Fall werden die jungen Kunden zu den Konsumenten gehören, die sehr viele Dinge nicht mehr im Laden kaufen, sondern im Netz bestellen. Welche Konsequenzen hat das? Bisher haben wir eisern auf die persönliche Beratung gesetzt (und sind dafür oft ausgezeichnet worden). Aber kommen wir künftig umhin, den Kunden in Frage- und Antwortmodus die Anlageberatung beispielsweise mit Hilfe eines Robo-Advisor-Tools nahezubringen und so einen einfachen und unkomplizierten Produktabschluss zu ermöglichen? Wichtige FragenGanz wichtig ist für uns die Frage: Wie schaffen wir es, in den direkten Kontakt mit unseren – primär digitalen – Kunden zu kommen, wenn sie die individuelle Beratung brauchen? Können wir wie bisher darauf vertrauen, dass in bestimmten Lebenssituationen (Finanzierung und Kauf einer Wohnung, eines Hauses, Sparen für die Ausbildung eines Kindes, Altersvorsorge, Auftrag einer Vermögensverwaltung) die Menschen zu uns kommen? Ich glaube, nein. Unsere Mindestantwort auf diese Frage lautet: Im Internet möglichst viele Schnittstellen anbieten. Überall, wo der digitale Kunde also auf Fragen stößt, die des individuellen Rates bedürfen, weisen wir auf die Möglichkeit hin, mit uns zu chatten, per Mail eine Frage zu stellen, um Rückruf zu bitten oder ein persönliches Beratungsgespräch mit uns zu vereinbaren. Drei SchwierigkeitenAber man sollte im Umgang mit der digitalen Welt auch nicht drei grundlegende Schwierigkeiten verkennen. Sie liegen gewissermaßen in unserer inneren Struktur im Bankenwesen. Erstens sind wir hierarchisch aufgebaut und überdies stark reguliert. Unsere sehr geordnete Welt stößt also auf einen sehr unruhigen Kosmos der Veränderung und des ständigen Lernens. Denn auch der Kunde verändert sein digitales Verhalten mit jeder neuen App, jedem digitalen Konsumangebot und jeder neuen Dimension der komplexen, hochraffinierten Welt der elektronischen Spiele.Und ganz klar: Das Digitale und die Hierarchie sind Feinde. Veränderte Führung bedeutet, dass die jeweils talentiertesten Mitarbeiter für diese Aufgaben digitaler Art eingebunden werden und sie jenseits vertikaler Führungsstrukturen in einem “hierarchiefreien Dialog” reden und gehört werden. Wie seit 155 Jahren wollen wir all unser Handeln am Kundenwohl orientieren, aber mit neuen Mitteln und sensibilisierter Aufmerksamkeit. Wir müssen dabei auch noch mehr von anderen Branchen lernen und erkennen, was dem Kunden das Leben tatsächlich vereinfacht, also auf Neudeutsch: mehr Hospitality Management.Zweitens ist unsere Branche technisch nicht besonders erfindungsreich. Vielleicht war die letzte eigene Innovation aus unserem Sektor die Erfindung des Geldausgabeautomaten. Und das war Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Die Herausforderung für uns als Bank ist aber nicht die Technik der digitalen Welt, die kann von Experten zugekauft werden. Die Frage, die sich vielmehr an uns richtet, heißt: Sind wir wirklich innerlich und strukturell in der Lage, uns auf nicht weniger als eine Revolution des Denkens und Handelns einzulassen? Mit der Zeit gehenDrittens müssen wir unsere Mitarbeiter fit machen fürs Digitale und überdies neue Menschen für uns gewinnen, die zu den “Digital Natives” zählen, die sich in den Vorstellungswünschen ihrer Kunden auskennen, weil es ihre eigenen sind. Übrigens müssen auch unsere Ausbildungspläne, die Prüfungsordnungen der Industrie- und Handelskammern und das Lehrangebot in unseren weiterführenden Bildungseinrichtungen entsprechend der neuen Zeit weiterentwickelt werden.So ziehe ich am Schluss folgendes Fazit: Wir schaffen den digitalen Wandel nur mit neuem Denken. Ob digital oder analog oder beides nebeneinander – das entscheiden die Kunden. Unsere Aufgabe ist es, ihnen dabei hilfreich zur Seite zu stehen. Analog können wir. Digital müssen wir permanent lernen. Dann werden eines Tages vielleicht auch Leon und Marie zu unseren Kunden zählen.—Eva Wunsch-Weber, Vorstandsvorsitzende der Frankfurter Volksbank