LEITARTIKEL

Nichts gewonnen, viel verloren

Die Europäische Union muss sich im Umgang mit Drittstaaten neu sortieren. Diese Einschätzung mag mit Blick auf die laufenden, völlig offenen Entscheidungsprozesse in Großbritannien und in der Schweiz voreilig und beliebig erscheinen. Während die...

Nichts gewonnen, viel verloren

Die Europäische Union muss sich im Umgang mit Drittstaaten neu sortieren. Diese Einschätzung mag mit Blick auf die laufenden, völlig offenen Entscheidungsprozesse in Großbritannien und in der Schweiz voreilig und beliebig erscheinen. Während die Briten die Union verlassen wollen, aber noch Teil des EU-Binnenmarktes sind, sucht die Union mit Nicht-EU-Mitglied Schweiz einen Weg, wie das jahrzehntelang gewachsene, komplexe Geflecht sektorieller Verträge durch ein rechtssicheres Rahmenabkommen ersetzt und so der Marktzugang zwischen beiden Ländern vereinfacht werden kann.Doch deutet derzeit nichts darauf hin, dass die Parlamente in London und Bern sich bald darauf einigen könnten, den ausgehandelten Kompromissvorschlag der EU zu unterstützen. Es droht eine längere Blockade. So unterschiedlich die Ausgangslage, geht es im Kern jeweils um vergleichbare Fragen. Erstens darum, ob in Drittstaaten EU-Recht ohne Einschränkung Anwendung finden muss – also wie weit der extraterritoriale Rechtsanspruch der EU geht. Und zweitens, welches Selbstverständnis die Friedensnobelpreisträgerin EU in Fragen demokratischer Legitimation hat. Lässt sie beispielsweise Ausnahmen zu, die von einer Mehrheit des Parlaments oder von einem Volksentscheid im Drittstaat gewünscht werden? Und umgekehrt: Reichen die bisherigen Mitspracherechte in der EU eigentlich aus, oder gibt sich Brüssel der Illusion hin, innenpolitische Widersprüche in Drittstaaten wie auch in den eigenen Mitgliedstaaten ausblenden zu können? Für die Union, so zeigt die unnachgiebige Position gegenüber Großbritannien und der Schweiz, ist zunächst einmal Rechtssicherheit wichtig. Ignazio Cassis, Schweizer Außenminister, verglich das umstrittene Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU mit einem Software-Update für ein Smartphone. Um einsatzfähig zu sein, muss die Software des Geräts auf dem neuesten Stand sein. Ist sie es nicht mehr, wird das Handy irgendwann nicht mehr zu gebrauchen sein. Das Bild ist klug gewählt und zeigt das Dilemma: Bilaterale Beziehungen verändern sich, aber es gibt auch Zwangsläufigkeiten. Die Updates müssen kommen. Die EU möchte nun durch das Rahmenabkommen sicherstellen, dass Unionsrecht möglichst reibungslos in der Schweiz Anwendung findet. Dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) kommt dabei entscheidende Mitsprache zu. Der Vorschlag für das Abkommen mit der Schweiz sieht ein gemeinsames Schiedsgericht vor. Dieses wird in Konflikten, die europäisches Recht betreffen (welche sind das nicht?), den EuGH um Einschätzung bitten. Aus Sicht der Schweiz ist es denkbar, dass in heiklen Fragen wie dem Lohnschutz dann doch ein europäisches Gericht über “innere Angelegenheiten” entscheidet. Untermauern lässt sich diese Sichtweise durch ein Urteil von 2013. Der EuGH hatte das von Deutschland durchgesetzte Nachtflugverbot für Anflüge über deutschem Gebiet auf den Flughafen Zürich für rechtmäßig erklärt. Es sei nicht notwendig gewesen, die Rechte des Flughafenbetreibers und der Flughafenanwohner in der Schweiz zu berücksichtigen.Nun ist nachvollziehbar, dass die EU erst über eine stärkere Vereinheitlichung von Recht und Standards mehr Schlagkraft erhält. Doch dieser Weg führt in Bezug auf Verhandlungen mit Drittstaaten in eine Sackgasse. Die Union dürfte zwar zunächst keine allzu großen Schwierigkeiten haben, ihre Ansprüche gegen Großbritannien oder die Schweiz durchzusetzen. Wer nicht willig ist, erhält keinen vollwertigen Marktzugang. Es braucht aber zum Tanz immer zwei. Sollte die Schweiz ihre Drohung wahr machen, bei einem Entzug der Börsenäquivalenz durch die EU ihrerseits die EU zu “bestrafen”, wäre die Union gefordert. Wird sie auf Geheiß der Schweiz den Handel mit Aktien von Schweizer Unternehmen in der EU überall verbieten? Die EU würde sich dann extraterritorialem Recht unterwerfen. Noch unbequemer wäre dies, wenn es sich beim Drittland um einflussreichere Länder wie die USA handelt.—–Von Dietegen MüllerDie Europäische Union muss das Verhältnis zu Drittstaaten neu überdenken. Ansonsten droht eine fruchtlose Blockade, nach innen wie nach außen.—–