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Osteuropas Fintech-Szene hat großes Potenzial

Börsen-Zeitung, 11.5.2019 Wenn man an die wichtigsten europäischen Fintech-Zentren denkt, dann fallen einem vermutlich zuerst London, Berlin oder Stockholm ein. Zweifellos gibt es in diesen Städten florierende Fintech-Ökosysteme. Wer sich allerdings...

Osteuropas Fintech-Szene hat großes Potenzial

Wenn man an die wichtigsten europäischen Fintech-Zentren denkt, dann fallen einem vermutlich zuerst London, Berlin oder Stockholm ein. Zweifellos gibt es in diesen Städten florierende Fintech-Ökosysteme. Wer sich allerdings ein vollständigeres Bild von der europäischen Fintech-Szene und vor allem von ihrem Potenzial machen möchte, sollte auch einen Blick auf Zentral- und Osteuropa werfen. Ansonsten würde man einen Markt mit 350 Millionen Bankkunden, davon 150 Millionen digitale Kunden, ignorieren.Dabei ist zu beachten, dass Zentral- und Osteuropa ein geografischer Sammelbegriff für eine wirtschaftlich sehr heterogene Region ist. Dies gilt auch für ihren digitalen Reifegrad. Zu seiner Messung lassen sich verschiedene Indikatoren heranziehen, beispielsweise die Nutzung des Internets zum Bezahlen von Rechnungen, zum Einkaufen oder zum Empfang von digitalen Zahlungen. Hohe DurchdringungsrateIn Tschechien, der Slowakei, Polen, Slowenien, Kroatien, Russland und Weißrussland liegt die digitale Durchdringungsrate bereits bei über 50 % und damit nahe oder über dem Niveau von globalen Schwellenländern wie China oder der Türkei, aber noch deutlich unter den Niveaus der führenden digitalen Märkte in Westeuropa.In den Ländern Südosteuropas – mit Ausnahme von Kroatien – ist die digitale Durchdringungsrate deutlich niedriger. In Serbien, Bosnien und Herzegowina, Albanien und dem Kosovo hat der Filialbesuch für viele Bankkunden nach wie vor einen sehr hohen Stellenwert.Aber auch in diesen Ländern haben junge Menschen eine starke Affinität zu digitalen Dienstleistungen, was ein starker Indikator für das Potenzial von digitalen Bankdienstleistungen ist. Wir rechnen damit, dass die Zahl von digitalen Bankkunden in Zentral- und Osteuropa in den kommenden Jahren trotz einer leicht zurückgehenden Bevölkerungszahl um 20 Millionen auf 170 Millionen ansteigen wird.Der Löwenanteil davon entfällt auf Russland, das bereits heute rund 78 Millionen digitale Kunden aufweist. In sechs weiteren Ländern, nämlich Tschechien, Ungarn, Polen, Rumänien, der Ukraine und Weißrussland, gibt es mindestens fünf Millionen digitale Nutzer.Das Potenzial für digitale Bankprodukte und damit auch für Fintechs ist also zweifellos gegeben, aber bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Zurzeit gibt es in Zentral- und Osteuropa rund ca. 1 100 Fintechs. Vereint beanspruchen diese etwa 5 % des gesamten europäischen Fundings für Fintechs für sich.Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des kumulierten Eigenkapital-Fundings betrug in den vergangenen zwei Jahren rund 13 %. Dabei hat sich der Anteil von Serie-A- und Serie-B-Finanzierungsrunden deutlich erhöht, was für den wachsenden Reifegrad der Fintechs in Zentral- und Osteuropa spricht. 2017 lag der Anteil von Serie-A- und Serie-B-Finanzierungen an den gesamten Eigenkapitalfinanzierungen bei 45 %. 2018 stieg der Anteil auf 75 %.Die drei größten Fintech-Hubs gemessen am kumulierten Eigenkapital-Funding sind Russland, Tschechien und Polen. Setzt man das Eigenkapital-Funding in Relation zum Bruttoinlandsprodukt, sind allerdings Estland und Lettland die Spitzenreiter. Das Kapital wird bislang überwiegend von lokalen Venture-Capital-Fonds zur Verfügung gestellt. Sie haben in der Vergangenheit vorwiegend Fintechs, die Dienstleistungen aus dem Bereich des Retail Banking anbieten, finanziert. Zurzeit stehen vor allem Fintechs aus den Bereichen Kapitalmarkt und Versicherungen im Fokus der Investoren.Die internationalen VC-Fonds haben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Region noch nicht für sich entdeckt. Dies könnte sich in den kommenden Jahren ändern, denn zahlreiche Regierungen und Regulatoren haben Maßnahmen zur Förderung ihrer Fintech-Ökosysteme eingeleitet. In Zentral- und Osteuropa gibt es bereits neun Innovationshubs und fünf regulatorische Sandboxes – deutlich mehr als in Westeuropa.Betrachtet man die einzelnen Fintech-Ökosysteme der Region und beginnt dabei im Osten, fällt wenig überraschend schon aufgrund seiner Größe Moskau ins Auge. Der russische Fintech-Markt ist in den vergangenen zwei Jahren sowohl in Bezug auf die Anzahl der Fintechs als auch auf das Investitionsvolumen deutlich gewachsen. Mittlerweile tummeln sich rund 200 Fintechs auf dem russischen Markt. Das kumulierte Funding-Volumen der vergangenen zehn Jahre beträgt 292 Mill. Euro.Russland profitiert insbesondere davon, dass es bei der Ausbildung von IT-Spezialisten zu den weltweit führenden Ländern gehört. Sowohl die russische Zentralbank als auch das Finanzministerium fördern aktiv die Einführung von neuen Technologien in die Finanzindustrie und setzen dabei Schwerpunkte auf Blockchain-Technologie, künstliche Intelligenz und Datenanalyse.Mindestens genauso ambitionierte Programme zur Förderung der Fintech-Systeme werden in den baltischen Staaten durchgeführt. Hier trifft eine dynamische Fintech-Szene auf eine sehr digitalaffine Gesellschaft und findet daher ideale Rahmenbedingungen. Alle drei baltischen Tiger unternehmen große Anstrengungen, um ihre Fintech-Ökosysteme zu fördern.Litauen hat sich zum Ziel gesetzt, Europas Fintech-freundlichstes Land zu werden, und macht dabei große Fortschritte. Laut der Weltbank ist Litauen in Zentral- und Osteuropa der beste Standort, um ein Unternehmen zu gründen. Das Land verfügt über 85 aktive Fintechs.Estlands Fintech-Ökosystem ist sogar noch größer. Mit 104 Fintechs ist es im Verhältnis zu seiner Gesamtbevölkerung hoch entwickelt. Die estnische Regierung ist sehr offen für Innovationen und gehört zu den ersten EU-Staaten, die kryptobasierte Geschäfte lizenzieren. Im Vergleich dazu fällt Lettland mit “nur” 48 Fintechs ein wenig ab. Allerdings besteht aufgrund der relativen Stärke des lettischen Finanzsektors für die lettische Fintech-Szene großes Wachstumspotenzial. Insidertipp BulgarienDie zwei größten Fintech-Ökosysteme in Zentraleuropa liegen in Polen und Tschechien. Polen weist 171 aktive Fintechs und ein kumuliertes Funding-Volumen von 64 Mill. Euro auf. Dabei ist zu beachten, dass in Polen vor allem Banken die Einführung von innovativen Bankdienstleistungen vorantreiben. Der polnische Bankenmarkt gilt als einer der modernsten Europas. Tschechien ist gemessen am kumulierten Funding-Volumen (132 Mill. Euro) zwar deutlich größer als Polen, verfügt aber über eine deutlich geringere Anzahl an aktiven Fintechs (87). Ein Grund dafür ist die vergleichsweise geringe Nachfrage nach innovativen Finanzprodukten und nicht etwa das mangelnde Angebot.In Südosteuropa ist an erster Stelle Bulgarien zu nennen. Sofia ist eine der am schnellsten wachsenden Fintech-Destinationen in der CEE-Region und verfügt bereits über eine kritische Masse an Startups sowie Finanz- und Technologiedienstleistern (32 aktive Fintechs mit einem kumulierten Funding-Volumen von 28 Mill. Euro). Ein Grund für die rasante Entwicklung der digitalen Technologie ist das zweitschnellste Breitband-Internet nach Südkorea.—-Hannes Cizek, Leiter Group Strategy & Innovation Raiffeisen Bank International