GASTBEITRAG

Patient Italien gefährdet überfällige EU-Reformen

Börsen-Zeitung, 23.10.2018 Die Fakten der ausufernden Haushalts- und Fiskalpolitik Italiens und die Mechanismen unliebsamer Folgen einer außer Kontrolle geratenen Staatsverschuldung sind hinlänglich bekannt. Dennoch beharren die neue populistische...

Patient Italien gefährdet überfällige EU-Reformen

Die Fakten der ausufernden Haushalts- und Fiskalpolitik Italiens und die Mechanismen unliebsamer Folgen einer außer Kontrolle geratenen Staatsverschuldung sind hinlänglich bekannt. Dennoch beharren die neue populistische Regierung Italiens und die EU-Kommission auf einem für alle Beteiligten äußerst schädlichen Konfrontationskurs. Die nach Griechenland zweithöchste Verschuldung Italiens mit 2,7 Bill. Euro – dies entspricht über 130 % des Bruttoinlandprodukts – kann die italienische Regierung nicht davon abhalten, ihre Wahlversprechen vermeintlich auf Kosten der EU-Solidarität einzulösen. Damit setzt sie provokativ auf Vergemeinschaftung und Transferleistungen, ohne die gemeinsam beschlossenen Bedingungen hierfür zu erfüllen. Erforderlich wird eine gravierende Anhebung der Haushaltsneuverschuldung. Anstelle eines ursprünglich geplanten und tolerierbaren Zuwachses um 0,6 % strebt die neue Regierung nun eine Neuverschuldung von 2,4 % der jährlichen Wirtschaftsleistung an, und dies vor dem Hintergrund, dass in den nächsten fünf Jahren rund 750 Mrd. Euro an Staatsanleihen auslaufen. Allein das Volumen in den nächsten zwei Jahren beträgt 380 Mrd. Euro.Der Konfrontationskurs und das Spiel mit dem Feuer hat einen großen Vertrauensverlust in die drittgrößte EU-Volkswirtschaft bewirkt, und die Kapitalmärkte haben Italien umgehend abgestraft. Neben kräftigen Kursverlusten bei Bankaktien hat die gebündelte Kritik und harte Haltung der EU-Kommission einen kräftigen Anstieg der Risikoaufschläge für italienische Staatsanleihen bewirkt. Inzwischen hat die Renditedifferenz zwischen italienischen und deutschen zehnjährigen Staatspapieren ein Niveau erreicht wie zuletzt während der europäischen Schuldenkrise 2012. Eine weitere Fortsetzung der Abwärtsspirale droht nun durch die jüngste Absenkung der Kreditwürdigkeit Italiens durch Moody’s. Die Bonität Italiens liegt nur noch eine Ratingstufe über Investment Grade.Für italienische Banken hat dies gravierende Folgen. Einigen Häusern steht gleichfalls eine schmerzliche Herabstufung bevor, die ihre Wettbewerbsfähigkeit weiter belasten wird. Italienische Banken leiden ohnehin unter einer Ertragsschwäche und unter den hohen Lasten fauler Kredite in Höhe von rund 300 Mrd. Euro. Zu berücksichtigen ist auch das Gefährdungspotenzial, das durch die Vergabe sogenannter “Zombie-Kredite” latent besteht und bei weiterem Zinsanstieg und Konjunktureintrübung in Italien weiteren Abschreibungsbedarf nach sich ziehen dürfte.Vor diesem Hintergrund stößt die geplante EU-Verabschiedung der europäischen Eigenmittelverordnung (CRR) auf Widerstand. Um den Besorgnis erregenden Bestand an notleidenden Krediten (Non Performing Loans, NPL) vor allem in südeuropäischen Ländern in den Griff zu bekommen, sehen die EU-Kommissionsvorschläge eine Verschärfung der Anforderungen im Umgang mit NPL vor. So sollen notleidende unbesicherte Kredite nach zwei Jahren und notleidende besicherte Kredite nach acht Jahren vollständig wertberichtigt werden.Zu diesem verschärften Szenario addieren sich für italienische Banken weitere Lasten. So entsteht ein immer höher werdender Abschreibungsbedarf, der aus Kursverlusten in den Bilanzen gehaltener italienischer Staatsanleihen im Gesamtwert von 375 Mrd. stammt. Um all den Herausforderungen wie hoher Wettbewerbsdruck, schwache Rentabilität und hohe Eigenkapitalbelastungen begegnen zu können, werden aller Voraussicht nach externe Hilfen, beispielsweise die Gewährung weiterer staatlicher Unterstützung, erforderlich.So dürfte nach der letzten nicht EU-konformen Bankenrettung 2016 unter Einsatz von Steuergeldern ein neuer Bestand an sanierungsbedürftigen Banken entstehen. Einige Häuser haben inoffiziell bereits vorsorglich in Rom nach erneuter staatlicher Unterstützung gefragt.Eine existenzielle Gefährdung ihrer Refinanzierungsmöglichkeiten besteht generell durch die Bonitätsverschlechterung. Die in ihrem Besitz befindlichen Staatspapiere dienen als Pfand einer günstigen Refinanzierung bei der EZB. Voraussetzung ist allerdings, dass die Staatsanleihen nicht weiter nach unten durchgereicht werden. Sollte die rote Linie Investment Grade durchbrochen werden, würde die alternativlos günstige Refinanzierung wegbrechen. Eine Kreditverknappung und Kreditverteuerung wären die unmittelbaren Folgen.Die Besorgnis erregende Entwicklung im italienischen Bankensektor hat jedoch nicht nur lokale Auswirkungen. So besteht eine hohe Ansteckungsgefahr für europäische Banken, vor allem französische, aber auch deutsche Banken. Dies gefährdet die weitere Gesundung des europäischen Finanzmarktes. Durch die Negativereignisse werden nicht nur die bereits erwähnte Verabschiedung der CRR-Eigenmittelverordnung aufgehalten, sondern längstens überfällige EU-Reformbestrebungen, etwa im Bereich Bankenunion und europäischer Sicherungsfonds, blockiert. Auch wird die Thematik Haftungsunion und Neuaufstellung bzw. Gestaltungsmöglichkeiten des ESM neu kritisch hinterfragt. Hinter verschlossenen Türen dürfte der ESM diskret seit geraumer Zeit Notfallpläne vorbereiten. Sollte der ESM als Schutzschild bei einer Verschärfung der Krise auf den Kapitalmärkten gefordert sein, so stellt sich allerdings die Frage, ob eine Übertragung des Masterplan “Lex Griechenland” auf Italien überhaupt politisch durchführbar ist und ob die bestehenden Fazilitäten ausreichen.Der Werteverfall der italienischen Staatspapiere hat auch Folgen auf die EZB. Abgesehen von dem EZB-Bestand an italienischen Titeln von 340 Mrd. Euro und dessen Abschreibungsbedarf nimmt die italienische Krise Einfluss auf die Geldpolitik. So dürfte sich die zaghaft angekündigte erste Zinserhöhung seit 2011 geringfügig zeitlich verschieben und erst Ende 2019 zu erwarten sein. Stillstand drohtDer Wertverfall bei den italienischen Staatsanleihen und das Ansteckungspotenzial gegenüber Papieren von Ländern mit hoher Staatsverschuldung und undisziplinierter Fiskalpolitik werfen erneut die Notwendigkeit der Einführung einer risikoadjustierten Bewertung der Staatsanleihen auf. Die Deutsche Bundesbank ist zu Recht ein Verfechter dieser Forderung. Bei Realisierung würde zumindest das Gefahrenpotenzial einer kommenden Finanzkrise durch fallierende Staatsanleihen abgefedert. Lässt sich der Konfrontationskurs der forsch auftretenden neuen italienischen Regierung mit der EU nicht bald durch einen für alle Parteien tragfähigen Kompromiss beilegen, kommt es zu einem Stillstand der EU-Reformen, der den Fortbestand der EU ernsthaft gefährdet.Die Herausforderung lautet, Wege zu einem diskret abzuschließenden Deal zu finden, unter Gesichtswahrung aller Beteiligten. Andernfalls müsste Brüssel erstmals harte Sanktionen gegen ein Mitglied aussprechen. Um dies abzuwenden, wäre eine indirekt spürbare Entlastung des italienischen Haushaltes durch die EU mittels Gewährung effizienzsteigernder Maßnahmen etwa im Bereich der Verteidigungs-, Infrastruktur- und Energiepolitik und ein Mehr an Solidarität in der Flüchtlingskrise das Gebot der Stunde. Als Entgegenkommen würde sich eine zeitverschobene Rücknahme der Neuverschuldung der italienischen Regierung mit Duldung der EU-Kommission unter die Marke von 2 % anbieten. Allerdings zeigt der italienische Patient trotz Fristensetzung bislang wenig Kompromissbereitschaft.—-Klaus Fleischer, Prof. (em) Hochschule München, Finanz- u. Bankwirtschaft; Of Counsel Baker Tilly, München