Potenzial für gemeinsames Wachstum

Digitalisierung in der deutschen Versicherungswirtschaft - eine Standortbestimmung

Potenzial für gemeinsames Wachstum

Mit den Plätzen 1 und 6 im Rückversicherungs- beziehungsweise Erstversicherungsgeschäft gehört der deutsche Versicherungsmarkt zu den größten Märkten weltweit. Das schlägt sich in Zahlen nieder: Prämieneinnahmen von rund 200 Mrd. Euro und verwaltete Kapitalanlagen von über 1,3 Bill. Euro im Erstversicherungsbereich machen Deutschland auch zu einem interessanten Standort für Insurtechs. Über 250 Investitionen tätigten Risikokapitalgeber und Versicherer im vergangenen Jahr weltweit in Versicherungs-Start-ups. Dadurch flossen 4,2 Mrd. Dollar in die Entwicklung der Newcomer und ihrer technologischen Innovationen, wovon ein Anteil von etwa 5% auf die deutschen Unternehmen entfiel.Dieser Trend setzt sich auch 2019 fort – und es zeigt sich, dass sich der Markt weiterentwickelt: Einige der größten Zweitrundenfinanzierungen, die im ersten Quartal in Insurtechs getätigt wurden, gingen an deutsche Firmen (Wefox, Friday). Die Zahlen aus den Willis Towers Watson “Quarterly InsurTech Briefings” zeigen: Deutschland hat sich – auch im internationalen Kontext – als bedeutender Insurtech-Standort etabliert. Viele junge Firmen sind heute deutlich reifer, was die wachsenden Investitionsvolumina in Folgefinanzierungsrunden belegen. Hinzu kommt: Anfängliches Konkurrenzdenken ist einer zunehmenden Kooperation zwischen etablierten und neuen Marktteilnehmern gewichen. So sind Insurtechs mittlerweile für Versicherer aller Sparten zu einem wichtigen Baustein für ihre zukünftige Wettbewerbsfähigkeit geworden.Den Standort stärken auch zahlreiche Brancheninitiativen wie das InsurLab Köln, der InsurHub Berlin oder der Insurtech Hub Munich, die sich in den vergangenen Jahren gegründet haben. Im vergangenen Jahr hat außerdem der US-amerikanische Risikokapitalgeber “Plug and Play” den Schritt nach Deutschland unternommen und sich mit Insurtech-Fokus hier positioniert: Der weltweit erfolgreichste Frühphaseninvestor aus dem Silicon Valley hat Unternehmen wie Google, Logitech oder Paypal groß gemacht.Im Vergleich zur ersten Generation von Insurtechs, die dem Endkunden lediglich die einfache Handhabung und gut gestaltete Frontends für seine Versicherungsangelegenheiten angeboten haben, hat sich das Spektrum heutiger Insurtechs deutlich erweitert: Inzwischen sehen wir Start-ups, die an den verschiedenen Stellen der Wertschöpfungskette eines Versicherers ansetzen und dort Mehrwert schaffen. Es gibt solche, die ähnlich Maklern arbeiten und die Prozesse im Vertrieb zum Endkunden digitalisieren; andere konzentrieren sich mehr auf die Abläufe im Versicherungsunternehmen und liefern Software für die interne Prozessoptimierung und das Datenmanagement.Und schließlich treten nach und nach auch Insurtechs als Risikoträger in den Markt ein und bieten die volle digitale Abwicklung aller Prozesse über die Bereiche Tarifierung, Policierung, Vertragsverwaltung und Schadenmanagement an. Sie haben bereits eine Reihe von Produkten entwickelt, die den oftmals komplexen Vertragsabschluss vereinfachen und individueller auf den Kunden zugeschnitten sind.Neben die spezialisierten Insurtechs treten aber auch branchenfremde Anbieter, denn: Einige Teilbereiche erfordern gar keine branchenspezifischen Lösungen – etwa die Kundenkommunikation oder die Text-Bilderkennung.Während Insurtechs wachsen und nach wie vor auch neue Player auf den Markt kommen, setzen sich längst auch die etablierten Gesellschaften mit den Chancen und Risiken der Digitalisierung auseinander. Zahlreiche Versicherer und Rückversicherer haben umfangreiche Digitalisierungsprojekte aufgesetzt, haben konzerninterne Innovationslabs gegründet und sind somit aus dem “analogen Winterschlaf” erwacht. In vielen Bereichen trägt dies bereits Früchte: So sind Automatisierungsprozesse und Möglichkeiten der Nutzung von Big Data vor allem dort schon angestoßen oder umgesetzt worden, wo Versicherungsprodukte eher standardisiert sind, etwa im Kfz-Bereich oder der Hausratversicherung.Neben diesen Aktivitäten haben einige Unternehmen auch eigene “Digitalversicherer” gegründet, zum Beispiel Ergo mit nexible oder W&W mit Adam Riese. Diese sind quasi ein Testfeld für neue, rein digitale Produkte, die Vereinfachung von Kundenprozessen oder einfach mehr Interaktion mit dem Versicherungsnehmer. Befinden sich Versicherer in puncto Digitalisierung ihres Geschäftsmodells also auf Augenhöhe mit Insurtechs? Disruption von innen herausFest steht: Auch wenn in Bezug auf die interne Digitalisierung noch Luft nach oben ist, arbeiten Gesellschaften in vielen Fällen allein oder gemeinsam mit Insurtechs mit Hochdruck an neuen Lösungen. Eine Grenze des gemeinsamen Wachstums ist heute nicht in Sicht. In dieser Konstellation hat die Versicherungsbranche weiterhin die Chance, den Wandel von innen heraus zu bestreiten – zumal ein sogenanntes “Next Big Thing”, welches die Branche oder das Geschäftsmodell radikal umwälzen könnte, auch noch gar nicht gefunden ist.Bislang arbeiten alle Beteiligten vornehmlich daran, das klassische Versicherungsgeschäft auf eine digitale Ebene zu heben. Eine grundsätzlich andere Entwicklung, wie manche Branchen sie erlebt haben, etwa der Einzelhandel durch Amazon oder das Taxigewerbe durch Uber, ist jedoch in der komplexen Versicherungswelt nicht so schnell zu erwarten: Versicherungen werden nur wenige Mal im Leben erworben, und wer einmal versorgt ist, lässt es damit oft auf sich beruhen.Der digitale Wandel trifft die Versicherer also nicht mit der vollen Durchschlagskraft. Eine Bedrohung von außen, die die Branche von heute auf morgen auf den Kopf stellen könnte, fehlt – bislang. Was noch vor einigen Jahren als potenzielle Gefahr für die Branche ausgemacht wurde, hat sich heute noch immer nicht als solche entpuppt: So haben Google, Facebook & Co. – aufgrund ihrer Monopolstellung, ihres (Daten-) Kapitals und Konsumentenvertrauens sicherlich in einer guten Ausgangslage – bis heute kein Modell gestartet, welches den Markt revolutionieren könnte. Auch die Geschäftsmodelle großer Konkurrenten aus dem Ausland wie Chinas Ping An oder Zhong An lassen sich aus vielfältigen Gründen nicht einfach auf andere Märkte der Welt übertragen.Können sich die Versicherer nun aufgrund dessen in Sicherheit wiegen? Das wäre die falsche Erkenntnis! Zwar ist das Marktgefüge bislang weitgehend unverändert geblieben, dennoch wird sich das digitale Potenzial mit zunehmender Geschwindigkeit weiter auf die Produktwelt aus-wirken.Ein wichtiges Beispiel hierfür ist die Einführung moderner, agiler Preissysteme. Erste Erfahrungen verdeutlichen, dass sie unmittelbar positive Ergebniswirkungen auf den Geschäftserfolg eines Unternehmens haben – ein Trend, dem sich Unternehmen nicht verschließen sollten.Darüber hinaus werden standardisierte und parametrische Produkte einen Teil der klassischen Angebote langfristig ablösen. Es ist also ratsam, sich im digitalen Wandel weit vorn zu positionieren: Versicherer müssen jederzeit in der Lage sein, auf Veränderungen agil und flexibel zu reagieren, denn noch hat sich nicht herauskristallisiert, welche Technologien und Produkte erfolgreich sein werden. Ist dies erst einmal der Fall, sollten Unternehmen vorbereitet sein, um nicht bei null starten zu müssen. Dies ist die Herausforderung im Kern: Den eigenen Wandel mit Hochdruck vorantreiben und sich zugleich bestmöglich auf den externen Wandel vorbereiten. Michael Klüttgens, Leiter der Versicherungsberatung bei Willis Towers Watson Deutschland und Niki Winter, Director und Digitalisierungsexperte bei Willis Towers Watson Deutschland