GASTBEITRAG

Quo vadis, Risikomanagement?

Börsen-Zeitung, 9.10.2018 War das Risikomanagement größerer Banken bis zur Finanzmarktkrise stark von finanzmathematischen Modellen geprägt, ist es seither eher von regulatorischen Initiativen getrieben. Was sind die methodischen Probleme und wohin...

Quo vadis, Risikomanagement?

War das Risikomanagement größerer Banken bis zur Finanzmarktkrise stark von finanzmathematischen Modellen geprägt, ist es seither eher von regulatorischen Initiativen getrieben. Was sind die methodischen Probleme und wohin könnte es gehen? Ungewissheit nicht messbarRisiken werden in diesem Kontext als die Gefahr negativer Veränderungen des (barwertigen) Vermögens bzw. der laufenden Geschäftsergebnisse einer Bank aufgrund künftiger, ungewisser Ereignisse definiert. Diese Risiken sind in komplexer Weise von Umständen abhängig, die häufig von mehr oder weniger vielen Menschen beeinflusst werden. Das gilt für die unterschiedlichsten Ursachen beim Ausfall eines Ratenkredits im Kleinen, wie bei der Interaktion von sehr vielen Menschen mit unterschiedlichsten Motiven unter komplexen und “unglücklichen” Umständen, die z. B. zur Finanzmarktkrise geführt haben.Naturgemäß sind viele “Umstände”, insbesondere das Handeln von Menschen, jedoch nicht prognostizierbar. Ansonsten wäre es ja vorbestimmt mit der Konsequenz, dass es freie Gewissensentscheidungen nicht gibt und das Jüngste Gericht überflüssig ist. Damit wäre eine “echte” Risikomessung eigentlich beendet.Um diese Hürde dennoch zu nehmen, bedient sich die Betriebswirtschaft einer Abstraktion, ähnlich wie bei der Definition des Homo oeconomicus. Bei der Risikomessung besteht die Abstraktion darin, die Vergangenheit als Indikator für die Zukunft zu nehmen. Wurde in der Vergangenheit ein gewisser Schadensbetrag nur einmal in hundert Jahren überschritten, so wird dieser Betrag demgemäß auch in der Zukunft nur einmal in hundert Jahren überschritten. Damit lassen sich im Rahmen einer “Postgnostik” vermeintlich Risiken ermitteln. Die gemessenen Beträge sind dabei von zwei Parametern abhängig: dem zeitlichen Prognosehorizont und der Wahrscheinlichkeit, mit der der Betrag nicht überschritten wird (“Konfidenzniveau”).Ein Beispiel: Wenn für einen Betrachtungszeitraum von einem Jahr bei einem Konfidenzniveau von 99,9 % ein Betrag von 1 Mrd. Euro “gemessen” wird, dann bedeutet dies, dass dieser Risikobetrag mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9 % in den nächsten 365 Tagen nicht überschritten wird, da er rechnerisch in der Vergangenheit nur einmal in eintausend Jahren überschritten wurde. Eine Risikotragfähigkeit ist dann mit der gleichen Wahrscheinlichkeit gegeben, wenn die aggregierte Risikoposition der Gesamtbank kleiner ist als die Netto-Vermögenswerte, die zur Deckung zur Verfügung stehen. Fatale FolgenDass die Zukunft keine Wiederholung der Vergangenheit ist, wird im Prinzip bei allen bisher eingetretenen Schadensfällen deutlich. Risikomodelle konnten die Finanzmarktkrise nicht prognostizieren, weil es die in dieser Form bisher nicht gegeben hatte. Zukünftige Finanzkrisen dürften dem zur Folge auch niemals identisch zu erleben sein. Der Risikospezialist und Essayist Nassim Nicolas Taleb macht das anhand einer einfachen Analogie deutlich: Nachdem ein Truthahn aus dem Ei geschlüpft ist, wird er über 999 Tage hinweg von einem liebevollen Bauern mit Wasser und Futter versorgt. Am 999. Tag geht er entsprechend den Risikomodellen davon aus, dass es mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9 % auch am 1 000. Tag so sein wird. Was der Truthahn nicht ahnt, ist, dass dieser Tag der Tag vor Thanksgiving ist und der Bauer ihn schlachten wird.So verwundert es nicht, dass die Prognosen der Risikomodelle immer wieder an der eintretenden Zukunft zerschellen. Nahezu alle Institute, die in existenzielle Schwierigkeiten geraten sind, hatten im unmittelbaren Vorfeld ihrer Krise komfortable Risikotragfähigkeiten bei hohem Konfidenzniveau. Die Deutsche Bank sah sich gezwungen, ihren mit einem Konfidenzniveau von 99,98 % gemessenen Risikowert für das operationale Risiko (ein “Zweimal-in-10 000-Jahren-Wert”!) von 2010 bis 2015 in mehreren Teilschritten von ca. 3,6 Mrd. auf über 10 Mrd. Euro anzuheben, bevor im Jahr 2016 eine Strafzahlung aus den USA in Höhe von 14 Mrd. Dollar allein aus den Hypothekengeschäften drohte. Jeder dieser Teilschritte ist im Prinzip ein “Zweimal-in-10 000-Jahren-Fall”.Die Ungewissheiten, die von den Modellen nicht vorhergesehen werden können, führen zu einer Überzeichnung des Sicherheitsniveaus mit der fatalen Wirkung, dass ein Anreiz besteht, unverhältnismäßige Risiken zur Maximierung der Eigenkapitalrendite einzugehen. Spätestens an diesem Punkt bewirken die Modelle das Gegenteil von dem, was sie bewirken sollten. Grundsätzliche ProblematikUnabhängig von der grundsätzlichen Problematik, dass man mit einem Blick in den Rückspiegel nicht sicher nach vorne fahren kann, besteht eine weitere Problematik darin, dass viele Risiken im Rahmen einer klassischen einjährigen Risikotragfähigkeitsbetrachtung nicht erfasst werden. Beispiele hierfür sind die lang anhaltende Niedrigzinsphase, die Schifffahrtskrise, Reputationsrisiken oder grundsätzliche strategische Risiken.Da sich das Risikomanagement nicht auf eine Kennzahl (einjährige Risikotragfähigkeit als Verhältnis von Risikodeckungspotenzial zu Risiken) komprimieren lässt bzw. eine solche Kennzahl selbst zu einem Risiko wird, muss das Risikomanagement zwangsläufig multidimensional werden. Diese bereits wahrnehmbare Tendenz wird so auch von der Aufsicht getrieben, welche die inhaltlichen Prüfungsfelder für das Risikomanagement ausdehnt. Nachfolgend werden zwei dieser denkbaren Dimensionen kurz beschrieben:Stresstests versuchen nicht Risiken als Funktion von Konfidenzniveau und Prognosehorizont zu quantifizieren, sondern betrachten die Fragilität des Instituts in Form negativer Auswirkungen verschiedener “Wenn-dann-Szenarien”. Diese Methoden gilt es in die Richtung eines “Superforecasting” deutlich zu verbessern bzw. zu erweitern. Dabei sollten vergangenheitsorientierte Wirkmechanismen von Stressparametern kritisch hinterfragt und das Spektrum denkbarer Szenarien mit Hilfe der Intuition von Menschen aus unterschiedlichen Bereichen (Konfliktforscher, Theologen, Durchschnittsbürger etc.) erweitert werden. Dieser von Autoren wie Tetlock/Gardner oder Giegerenzer beschriebene Grundgedanke der Nutzung der “unbewussten Intelligenz” findet bereits in ausgewählten Praxisbereichen Anwendung.Nachhaltigkeitsmanagement ist hier im Sinne eines Interessensausgleichs aller Stakeholder statt einem reinen Shareholder-Value-Ansatz zu verstehen. Grundsätzlich muss der ethische Interessensausgleich aller Stakeholder nachhaltiger und damit risikoärmer sein, weil anderenfalls auf längere Sicht benachteiligte Stakeholder eskalieren. Dieses kann durch Kundenverluste, Mitarbeiterverluste oder in Form eines derzeit zu erlebenden Regulierungstsunamis erfolgen. Dieser Interessenausgleich ist grundsätzlich über ein System von Indikatoren messbar, deren Zusammenhang zu einem nachhaltigen Erfolg auch nachweisbar ist. Diese Indikatoren können noch systematischer in die Steuerungs- und Anreizsystematik der Institute integriert werden, als dies bereits heute der Fall ist. Weitere Entwicklungsfelder/Dimensionen des Risikomanagements mit Entwicklungspotenzial wären z. B. Strategie/agile Geschäftsmodellentwicklung, Risikokultur, internes Kontrollsystem oder Liquiditätssteuerung. Fragilität eines InstitutsFazit: Das Risikomanagement entwickelt sich mangels Messbarkeit der Auswirkungen ungewisser Extremereignisse in der Zukunft in die Richtung einer integrierten Steuerung der Fragilität eines Instituts. Diese Entwicklung scheint auch vor dem Hintergrund angemessen, dass Volatilitäten (z. B. durch die Entkopplung von Geld- und Realwirtschaft) und andere Quellen künftiger Extremereignisse, von globalen Abhängigkeiten über Macht- und Vermögenskonzentrationen bis hin zu Ressourcenknappheiten, tendenziell zunehmen. Möglicherweise kann durch die Fokussierung auf die (zunehmende) Fragilität auch die Diskussion um eine angemessene Eigenmittelausstattung von Kreditinstituten neue Impulse bekommen.—-Klaus Leusmann, Leiter ZEB Akademie