AUS DER KAPITALMARKTFORSCHUNG - IM INTERVIEW: MARCEL SCHÜTZ

"Regelabweichung ist allgegenwärtig"

Was wir schon immer über Compliance wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten - Zu einem Forschungsprojekt der Universität Oldenburg

"Regelabweichung ist allgegenwärtig"

– Herr Schütz, Sie leiten als Organisationsforscher an der Universität Oldenburg ein Forschungsprojekt zum Thema Compliance. Wie ist es nach Ihren bisherigen Erkenntnissen um die Compliance in den deutschen Unternehmen bestellt?Die Compliance-Kontrolle ist als eigene Abteilung in vielen größeren Unternehmen inzwischen verbreitet. Wie es um sie bestellt ist, kann man nur schwer auf den Punkt bringen. Die regelmäßige Präsentation sogenannter Skandale hat sicher in hohem Maße zur Einrichtung von Compliance beigetragen. Die erste Reaktion auf Affären ist, einen “Compliance Officer” zu berufen oder den alten von seinem Amt zu entbinden, ein neues oder größeres Vorstandsressort einzurichten, einen Experten aus dem Rechtswesen herbeizuziehen und das alles sehr werbewirksam zu präsentieren, um Reputationsschäden zu lindern. Unternehmen müssen so gegenüber ihrer Umwelt auftreten, um zu zeigen, dass sie tätig werden.- Ich höre da Skepsis heraus.Es gibt Grund zur Skepsis, was die tatsächlichen Wirkungen von Kontrollverschärfungen angeht. Die Gefahr ist, dass Organisationen mit immer genaueren Regularien überzogen werden. In innovativen Bereichen haben Mitarbeiter das Gefühl, dass man ihnen gleichsam die Luft zum Atmen nimmt. Und ein wunder Punkt ist, ob Compliance überhaupt die notwendige Anerkennung erfährt, um etwas bewirken zu können. Organisationen sind soziale Gebilde, die auch dann funktionieren, wenn die Linke nicht weiß, was die Rechte tut. Und obwohl oder gerade weil das alle wissen und keiner zu viele Dinge zu genau erfahren möchte, funktionieren sie erstaunlich gut.- Die Korruptionsaffäre bei Siemens, die unzähligen Rechtsstreitigkeiten der Deutschen Bank, Volkswagens “Dieselgate”, um drei prominente Beispiele zu nennen: Ist, was die Gesetzes- beziehungsweise Regeltreue angeht, grundsätzlich etwas faul am Standort Deutschland?Solche Zuspitzungen sind beliebt. Viele Statements in der VW-Affäre waren bezeichnend: “Standortgefahr”, “dunkle Machenschaften”, “korrupte Konzerne” et cetera. Solche Urteile bestärken das allgemeine Empfinden, dass es in der Wirtschaft an Moral fehle. Und sofort fühlen sich viele Experten, Politiker oder Personalchefs berufen, eine “neue Ethik” und “echte Werte” einzufordern. All das ist symptomatisch für Skandalberichterstattung. Es gibt aber keinen “faulen” Standort. Wer wollte einen solchen bemessen? Was es aber gibt, ist überall in jeder großen Organisation reguläre Regelabweichung. Der Soziologe Niklas Luhmann, von Hause aus selbst Jurist, prägte dafür den Begriff “brauchbare Illegalität”.- Das heißt, solche Verstöße sind halb so schlimm?Man kann gegen formale Erwartungen, gegen das Regelwerk und Arbeitsanweisungen latent verstoßen und dennoch zum Wohle des Unternehmens, effizient und effektiv, handeln. Ohne diese Regelabweichungen könnten Konzerne, Kirchen, Banken oder Verlage nicht bestehen. Wenn man in großen Organisationen alles so machen würde, wie es auf dem Papier steht, könnte man den Betrieb einstellen. Natürlich hat das Grenzen, natürlich ist das Management gefragt, darauf zu achten, wie man Regelabweichungen so ermöglichen kann, dass sie nicht zu äußeren Rechtskonflikten führen.- Ist es ein generelles Problem unserer Gesellschaft, dass man es mit der Einhaltung von Regeln nicht oder nicht mehr so genau nimmt? Und falls dieser Eindruck zutrifft, ist daran womöglich auch die Politik mitschuldig, die ja ihre Regeln, wohlwollend formuliert, auch allzu oft sehr freizügig auslegt – denken Sie nur an die No-Bail-out-Klausel im Maastricht-Vertrag – und damit nicht gerade ein gutes Vorbild abgibt?Regelabweichung ist allgegenwärtig. Natürlich – im Regelfall – wesentlich geringer ausgeprägt hinsichtlich Ausmaßen und Folgen. Ob in der Wirtschaft, in der Politik und auch in der ganz privaten, vertrauten Nahwelt, es kommt unvermeidbar zu Zielkonflikten. Man möchte als Steuerberater eigentlich gar nicht dabei mithelfen, dass große Konzerne sich schönrechnen. Als Privatmensch wählt man gar die Linkspartei, aber in der Rolle des Jobs darf man sich ihre Thesen nicht zu eigen machen. Was die Politik betrifft, so sehen wir, dass es zuweilen eben schlicht an politischer Handhabe fehlt, “harte” Normen durchzusetzen.- Deshalb werden die Normen zurechtgebogen?Wenn Normeinhaltung als unwahrscheinlich gilt, wird die Norm einfach den faktischen Verhaltensweisen angepasst. So können Regierungen daran beteiligt sein, die Festsetzung großzügiger Grenzwerte von Abgasen zu dulden oder zu fördern, um als wirtschaftsfreundlich beurteilt zu werden. Zur Hybris gehört es dann, politisch den Aufklärer zu spielen. Und wenn eine Regierung ihre Steuerflüchtlinge nicht zu greifen bekommt, kann sie Steuerabsenkungen und Deals auf den Weg bringen, damit man überhaupt noch vollstrecken kann.- Ist das nicht zuletzt auch eine Frage der Akzeptanz von Normen?Faktisch müssen wir, wenn wir Normen im Wirtschaftsbereich schon so hochmoralisch aufgeladen einfordern, auch sehen, dass Normen nur insoweit zur Geltung kommen, wie sie praktisch anerkannt werden. Was heute die Norm ist, ist morgen vielleicht von gestern. Dieselgate finden alle schlimm, zumindest so lange, wie die eigene Liebe zum Automobil nicht beeinträchtigt wird.- Gibt es eigentlich eine allgemein anerkannte umfassende oder abschließende Definition des Begriffs “Compliance”?Juristisch und nach Normenkatalogen gibt es Definitionen. Interdisziplinär kann man nicht von Konsens sprechen. Und jede Seite trägt ihre Normvorstellungen in den Begriff. Für einen Juristen ist die Sache schnell klar: Regeltreue oder Regelverstoß. Der Ökonom fragt nach der Effizienz und was das alles wieder kostet. Schon beginnen die Probleme. Muss man als Manager alles unter Compliance sehen, hat man also nur noch wenig Neigung, sich dem Thema zu widmen. Und dann kommen die Wissenschaftler und fragen nach sozialen Voraussetzungen und Folgen. Man kann es zwar auf die banale Formel “regeltreues Verhalten” verkürzen, am besten noch mit Verweis auf die betreffende ISO 19600 …- … den internationalen Standard für Compliance-Management-Systeme …… nur ist damit für eine tiefgründige Klärung nicht viel gewonnen. Zumindest dann nicht, wenn man neben allem Regelwerk auch noch Regelrealität im Blick hat sowie die Leute, die mit all diesen Schranken vor Augen ihrer Arbeit nachgehen müssen.- Ungeachtet der genannten gravierenden Fälle von Regel- oder Gesetzesverstößen: Ist Compliance nicht auch ein ziemlich überstrapaziertes Modethema?Sogenannte Trendthemen prägen die Wirtschaft permanent. Letztlich funktionieren Unternehmen nicht abgeschottet vom Rest der Welt. Unternehmensberatung, Kongresse, Fachtagungen, Leitbilder und Managementinstrumente prägen, steuern, modifizieren und platzieren diskutierte Fachthemen. Mit Trends kann man gut punkten, weil vieles neu erscheint. Doch auch mit Compliance wird das Rad nicht neu erfunden. Entscheidend ist, dass etwas stärker als bisher akzentuiert wird. Wer kennt Unternehmen, in denen in der Vergangenheit konsequente Regellosigkeit zum Erfolg wesentlich beitragen konnte? Wenn wir über Firmen reden, reden wir über hochgradig regelhafte Organisationen.- Warum ist es so schwer, sich über etwas eigentlich Selbstverständliches zu verständigen? Regeln sind einzuhalten, Punkt. Das müsste doch reichen. Wozu braucht es diese ganze Compliance-Diskussion?Wie bei jedem populären Thema ist es natürlich die Kunst, aus Selbstverständlichem Besonderes zu ziehen. Das ist auch nicht verwerflich. In der Wirtschaftspresse ist das Platzieren von Themen eine wichtige und heiß umkämpfte Sache. Der Clou besteht darin, relativ gewöhnliche und alltägliche Gegenstände mit einem übergreifenden Managementkonzept zu arrangieren. Schließlich sind die Meinungsführer im Thema Compliance Unternehmensberater oder Anwälte.- Da wird Compliance kommerzialisiert.Sagen wir es so: Das sind Bereiche, in denen Wissen und Tools gegen relativ hohen Geldeinsatz an Frau und Mann gebracht werden. Es boomen nach jeder “Affäre” neue und neu bewusst gemachte Angebote. Weil dafür natürlich wiederum Kontakte, Plattformen und auch noch Zertifikate bereitgestellt werden. Es ist ja bekannt, dass Manager auf ein relativ überschaubares Set einmal angeeigneter Techniken und Tools zurückgreifen. Das alles führt aber keineswegs zu weniger Bedarf an Steuerungskonzepten. Im Gegenteil: Die Publikationszahlen schießen in die Höhe, und das Neue wird laufend in anderer Variante dargeboten. Management ist eben zu einem Gutteil auch Glaubenswelt.- Früher galt das Leitbild des “Ehrbaren Kaufmanns”. Nicht wenige berufen sich noch heute darauf. Da weiß jeder, was sich gehört oder was geht und was nicht. Ist das für die heutige komplexe Welt zu einfach?Wenn man so fragt, müsste man sich erst mal verständigen, was wir heute unter dem berühmten “Ehrbaren Kaufmann” verstehen. Und in welchen Bereichen der Wirtschaft wird dieser Typus erwartet? Ich denke nicht, dass große Wirtschaftsbetriebe früher oder heute durchweg mit dem schönen Bild in Verbindung gebracht werden können. Ich denke aber auch nicht, dass wir von einem “Konzernkriminellenkartell” umgeben sind. Das alles wäre so oder so nur unnötiges Drama. Vielmehr scheint es mir naheliegend, dass wir als Konsumenten oder Beschäftigte gern unsere Idealvorstellungen, also Moralansprüche, in Wirtschaftsabläufe hineinprojizieren. Und das deshalb tun, weil wir nicht unangenehm überrascht werden wollen. Nils Brunsson, ein schwedischer Organisationswissenschaftler, hat es vor Jahren so gesagt: Heuchelei ist integraler Bestandteil in Organisationen.- Das klingt aber ziemlich hart.Da gebe ich Ihnen recht. Aber man muss den Begriff “runterkochen”. Es geht nicht um Diffamierung. Es ist eine empirisch begründete Feststellung, dass Firmen, allzumal große, auf sehr unterschiedliche Erwartungen ihrer Umwelt reagieren müssen. Das führt zu Druck in der Organisation. Abweichungen sind so betrachtet gerade nicht Ausdruck krimineller Energie, sondern das Ergebnis differenzierter Anpassungsleistungen. Investoren, Kunden, Sozialverbände, Politiker – kein Unternehmen kann alle diese Anspruchsgruppen mit einem kompakten Normverständnis bedienen.- Wie verändert die Compliance-Diskussion die Unternehmenswelt?Ich bin skeptisch, ob wir überhaupt von solchen Veränderungen ausgehen können. Die Diskussion ist gewiss weder wirkungslos noch der Beginn einer neuen Zeit. Es ist doch übertrieben, jetzt ganz neues Business zu verkünden. Was steckt denn hinter der Forderung nach einer “ethischen Wirtschaft” oder “moralisch sensiblen Unternehmen”? Hier wird doch erst mal die Bestellung aufgegeben, ohne zu fragen, wer die Rechnung zahlt. Ich sehe in solchen Moralbegriffen beruhigende, vielleicht therapeutisch wirkende Rhetorik, die wiederum vorläufig heilsam erscheinende Ratgeber und Denkschriften hervorbringt. Es gibt aber kein Schwarz-Weiß, die alte korrumpierte Welt und das neue Compliance-Paradies. Wir haben zunächst einmal das Wirtschaftssystem, das wir haben.- Und das sich nicht ändert?Mag ja sein, dass sich auch das ändert. Aber dann sicher nicht mit großen Moraldebatten, die wohl am ehesten zum kurzfristigen Erregungsabbau dienen. Gerade das Wecken von Hoffnungen, die hinterher nicht erfüllt werden können, hat etwas Zynisches. Die VW-Angelegenheit führt es vor Augen. Nach dem großen Theater merken viele: So viel wird sich nicht ändern. Und die Regierung setzt einen Ausschuss ein, dessen Personalauswahl zeigt, dass man nicht zu deutlich werden möchte.- Worin liegt aus Ihrer Sicht der größte Nutzen von Compliance für die Unternehmen, soweit sich das so allgemein sagen lässt?Ein Nutzen von Compliance – und zwar einer wirksamen – läge meines Erachtens am ehesten da, wo man erkennt, dass Organisationen sowohl auf Regelsetzung als auch auf Regelabweichung angewiesen sind. Völlig klar ist, dass Folgenabschätzung Aufgabe des Managements ist. Gerade das wird in der Debatte, soweit ich sehe, versäumt. Statt sich mit der Frage eines Managements von Regelabweichung zu befassen, werden Standardlösungen nach ISO-Norm eingekauft. Aber wo sind die Lerneffekte? Man macht doch jetzt wieder ganz viel Standard, weil alle das machen. Ein Blick in die Managementpresse für Praktiker genügt. Eine Compliance-Personalie nach der nächsten rückt in den Fokus. So, als handele es sich dabei mindestens um Staatssekretäre, wenn nicht Regierungschefs.- Inwieweit kann Compliance von Nachteil sein, weil die ständige zumindest latente Angst, Regeln zu verletzen, die Akteure verunsichert? Nach dem Motto “Bevor ich eine Regel verletze, entscheide ich lieber gar nicht”.VW hat ja eine “Kronzeugenregelung” eingeführt. Wer auspackte, konnte auf Gnade hoffen. Dass bei alledem Verunsicherung verbreitet ist, kann ich nur bestätigen. Es gibt recht häufig die Situation, dass in Forschungsprojekten Mitarbeiter etwas verklemmt über Compliance sprechen. Mancherorts wird von der Compliance-Abteilung wie von einer Art externer Einheit gesprochen, die nicht so ganz zum Restbetrieb gehört. Aber es geht ja nicht nur um Beklemmung, sondern auch um Kreativität. Es wird schwieriger, Projekte in einem geschützten Raum durchzuführen, auch einmal bei abgeschwächter Kontrolle zu experimentieren.- Also lässt man es bleiben.Sicher nicht ganz und gar. Die Hemmungen nehmen zu. Man muss sich aber auch anschauen, wie Entscheidungen in großen Betrieben zustande kommen. Vieles bleibt strukturell unklar; das heißt, es gibt ein feines Vernebeln und Verästeln von Entscheidungen. Mal willentlich, mal planlos, innerhalb komplizierter Entscheidungsflüsse, bis am Ende im ganzen Haus keiner mehr genau weiß oder wissen will, wer eigentlich wem was, wie und wozu übergeben, anvertraut, mitgeteilt – oder all das zu tun vergessen oder verdrängt – hat. Und gerade unter diesen von außen betrachtet wirren Bedingungen funktionieren Unternehmen offenkundig ziemlich gut und unauffällig.- Gilt – wie angeblich zuweilen im Steuerrecht – auch in Sachen Compliance, “der Ehrliche – also der, der sich an die Regeln hält – ist der Dumme”?Das wäre sehr pauschal. Denn der Nichtehrliche steht selbst dumm da, wenn er es übertreibt, andere schädigt oder am Ende in puncto Falschheit konkret identifiziert werden kann. Damit wir uns nicht missverstehen: Zweifel an Ausprägungen der Compliance bedeuten keineswegs ein Plädoyer für Anarchie oder das Recht der vermeintlich Gerisseneren. Vertrauen kann enorm wichtig sein, um zu erspüren, in welchen Situationen welche Maßnahmen als zulässig und welche als unzulässig gelten. Wenn wir über Regelabweichungen reden, dann vor allem über solche, die auch durch das Management diskret geduldet werden können oder so minimal sind, dass sie kaum nennenswert auffallen. Wir reden nicht über den Zustand, wenn die Staatsanwaltschaft klingelt.- Dann ist es zu spät?Dann ist nichts mehr zu retten. Aber die kriminalistisch insignifikante Form kennt jeder im persönlichen Büroalltag. Man muss nicht permanent alles anzeigen, von dem man weiß, dass es nicht gerade als Musterlösung herhalten könnte. Kommunikationswege zum Beispiel müssen oft aus persönlichen Gründen boykottiert werden. Natürlich ist es unmöglich, das offiziell zu machen. Umgekehrt sollte niemand glauben, sich alles erlauben zu können. Organisationsmitgliedschaft endet dort, wo offensichtlich wird, dass die Selbstbeschreibung der Organisation, ihre Ziele, ihre vertraglich vereinbarten Werte oder auch nur die “gefühlte” Unternehmensphilosophie ignoriert oder beschädigt werden. Nur bis es so weit kommt, ist es ein langer Weg. Es gibt nicht wenige, die viel früher ahnden und sanktionieren wollen. Genau das aber erscheint zweifelhaft, was die Effekte angeht.- Welche Risiken und Nebenwirkungen oder Anekdoten begegnen Ihnen in der Compliance-Diskussion?Gerade in unserem Gebiet erleben wir oft, dass hinter Anekdoten überraschende Abläufe stehen. Oft führt erst eine sporadische Beobachtung dazu, dass man auf etwas Interessantes aufmerksam wird. Der persönliche Anekdotenschatz ist daher stark im Wachsen begriffen. Es gab zum Beispiel ein Unternehmen, in dem Mitarbeiter zufällig – so heißt es zumindest – ausgewählt wurden, um in Interviews über den Zustand von Compliance zu berichten. In einem Betrieb war es so, dass das Compliance-Ressort durchs halbe Unternehmen telefonieren musste, bis eine Führungskraft bereit war, die Mitarbeiterin zum Gespräch zu schicken. Alle anderen fanden viele Gründe, warum gerade ihre Mitarbeiter nicht konnten. Oder man sollte nächstes Jahr wieder anrufen. Natürlich geht es auch viel eleganter, sich den Blicken zu entziehen.- Zum Beispiel?In einer großen Beratungsfirma ist es intern üblich, dass bei der Revision alle heiklen und nicht ganz standardmäßig bearbeiteten Mandate in befreundete Standorte verbracht werden. Die dortigen Kollegen verbringen wiederum ihre eigenen heiklen Fälle zum anderen Standort, wenn bei ihnen die Prüfung ansteht. Es ist ein Geben und Nehmen. Andernorts forderte ein Mitarbeiter wochenlang die Compliance-Broschüre seiner Firma an und musste erst einmal begründen, wozu er sie denn braucht. Wird Kontrolle immer mehr zum Thema gemacht, werden die Leute skeptischer und nervöser. “Sich gar nicht erst auffällig verhalten”, hörte ich letztens in einer Personalabteilung.- Da wird es dann aber kontraproduktiv.Vielleicht ist das auch ein Effekt, dass man rein mit der Präsenz von Compliance Besorgnis fördert. Ein Kollege aus Hannover hat in seiner Forschung herausgefunden, dass Compliance-Abteilungen teilweise selbst gegen Regeln verstoßen, um – im Ergebnis und nach den eigenen Wertvorstellungen – mehr schlecht als recht Regeleinhaltung zu überwachen. Am Ende ist entscheidend, inwiefern Ziele erreicht werden und möglicherweise auch unerwünschte Folgen entstehen.- Was folgt daraus für Ihre Forschung?Für unsere Forschung gilt, dass in puncto Regelsetzung weder alles vergebens sein muss, noch glauben wir Machbarkeitsprosa nach der Art: “Alle müssen nur zueinander offen sein.” Wenn das alle wären, würde in Betrieben das Chaos ausbrechen. Forschung hat hier einen wichtigen Vorteil: Wir können uns den Luxus erlauben, Organisationen ohne Rücksichtnahme zu beobachten. Mit der Gefahr natürlich, dass wir am Ende manchen offensichtlich zu offen sind. Aber über das Anecken und Stören dürfen sich Wissenschaftler keine Gedanken machen.- Ich kann Ihnen übrigens auch eine Anekdote aus eigenen Erfahrungen erzählen. Mancher Pressesprecher, der einen Journalisten zu einem ganz normalen Mittagessen einlädt – oder umgekehrt -, und derjenige, der diese Einladung annimmt, fragt ja heute auch schon allen Ernstes sich selbst und sein Gegenüber, ob sie das überhaupt dürfen. Gegebenenfalls handeln sie dann beide nach der Devise “Nicht ohne meinen Anwalt”.Ja, und bis die Sache rechtlich geklärt ist, ist beiden der Appetit vergangen.—-Das Interview führte Bernd Wittkowski.