Rohstoffmärkte als Spiegel wirtschaftlicher Realität
Spätestens seit der “Great Recession” des Jahres 2008 bezweifeln viele Kommentatoren, dass Finanzmärkte einen positiven Beitrag für die Gesamtgesellschaft leisten können. Diese Kommentatoren lassen der Einfachheit halber allerdings außer Acht, dass das Finanzwesen eine der wichtigsten Errungenschaften der modernen Menschheit ist. Ohne Kapital, Kredit und die entsprechenden Märkte wäre die westliche Welt heute weder wohlhabend noch industrialisiert. Denn seit den Zeiten Babylons haben es die Finanzmärkte ermöglicht, in steigendem Maße Risiko, Kapital und Werte über verschiedene Perioden hinweg zu allozieren. Auch bei der Frage, ob der gegenwärtige Schuldenabbau künftig in einer schädlichen Inflation oder einer massiven Deflation enden wird, können die Finanzmärkte – und hier an erster Stelle die Rohstoffmärkte – wertvolle Hinweise liefern. Seit beinahe 150 JahrenDas Finanzwesen hat den Zugang zu komplexen Reallokationsprozessen kontinuierlich ausgeweitet: Je mehr Menschen sich bei finanziellen Aktivitäten engagieren, desto effizienter funktioniert es. Die Finanz ist daher von inhärent demokratischer Natur – sofern sie richtig umgesetzt wird. Seit beinahe 150 Jahren sind börsliche Rohstoffmärkte nunmehr ein ganz besonderer Bestandteil dieses egalitären Marktsystems. Aufgrund offener und transparenter Informationen über Rohstoffpreise wurden westliche Volkswirtschaften zum ersten Mal in der Geschichte unabhängig von mächtigen merkantilistischen Interessen, die bis dahin die Preise kontrollierten.Als die westliche Welt demokratischer wurde, entwickelte sich auch das Preisbildungssystem in diese Richtung. Unglücklicherweise gefährdet der gegenwärtige Schuldenabbau sowohl unsere liberale politische Ordnung als auch die offenen Märkte. Illiberale Kräfte werden ihren großen Tag haben, wenn die aktuellen geldpolitischen Maßnahmen in starken deflationären oder inflationären Druck münden. Glücklicherweise können uns die Rohstoffmärkte rechtzeitig über anstehende Entwicklungen informieren.Auch wenn niemand die Zukunft genau vorhersagen kann, zeigen Rohstoffpreise, wie wir gewinnbringend investieren können – unabhängig vom Ergebnis des gegenwärtigen Schuldenabbauprozesses. Um diese Anzeichen korrekt zu deuten, müssen Investoren verstehen, wie Märkte, Geldpolitik und Politik miteinander verknüpft sind und ein gemeinsames soziales Gebilde formen. Erst wenn das Verständnis gereift ist, dass diese drei Sphären untrennbar sind, kann die Rohstoffanlage zur Königsdisziplin des Makro-Investing in Zeiten des Schuldenabbaus werden.Die erste wichtige Erkenntnis ist, dass Rohstoffmärkte keine natürliche Tatsache sind. Wie Literatur oder Kunst sind sie letztendlich eine soziale Schöpfung, ein menschliches Konstrukt. Auch wenn die Rohstoffmärkte sich auf eine technologische Grundlage, die Börse, stützen, spiegeln sie doch menschliche Verhaltensweisen wider. Als effiziente technologische Plattformen erfassen Märkte ineffiziente menschliche Mutmaßungen. Obwohl viele Menschen davon ausgehen, dass Märkte auf den Grundsätzen der Naturwissenschaft beruhen, folgen sie keinen immer gültigen Gesetzmäßigkeiten – wie es sie etwa in der Physik gibt. Märkte können die soziale Realität nie vollständig abbilden, sondern sich ihr nur annähern in einem unendlichen, chaotischen Prozess von Boom- und Bust-Zyklen.In diesem Sinne sind Rohstoffmärkte fehlbare soziale Gebilde, die die dominierenden Emotionen, Fähigkeiten und Dogmen der Gesellschaft widerspiegeln, die sie geschaffen hat. Davon hängt ihre fragile Existenz ab. So ist beispielsweise das vorherrschende globale geldpolitische Regime immer Ausdruck einer bestimmten politischen und wirtschaftlichen Ordnung, wie etwa das Britische Empire oder die Pax Americana. In der Regel garantiert der dominierende Kreditgeber diese Ordnung, indem er politische Stabilität gewährleistet. Dies wiederum fördert die kulturelle Integration, den Handel und, im Idealfall, auch ein kräftiges Wirtschaftswachstum.Wenn der Hauptkreditgeber allerdings verschwindet, löst sich auch das zugrunde liegende Marktsystem auf. Letztendlich sind die Märkte immer ein Spiegel, der das wahre Gesicht einer Gesellschaft zeigt. Manchmal ist dieses Spiegelbild willkommen, manchmal nicht. Falls die Bemühungen des gegenwärtigen Schuldenabbaus fehlschlagen, wäre das dadurch entstehende Spiegelbild abzulehnen.Einer der besten Spiegel, um die wirtschaftliche und monetäre Realität einer Gesellschaft zu erfassen, sind, wie bereits erwähnt, die Rohstoffmärkte. Weil sich die zugrunde liegende Realität ständig verändert, sind auch die Preise im Fluss. Trotz enormer Unsicherheiten bieten offene Rohstoffmärkte nicht nur Preise mit immenser Geschwindigkeit und hoher Liquidität. Sie sind auch egalitäre Märkte, an denen es keinen “natürlichen” oder “fairen” Preis gibt. Die evolutionäre Qualität einer solchen Preisbildung bedeutet, dass der Wert eines Rohstoffs niemals sicher ist, da Angebot und Nachfrage ständig neu beurteilt werden. Ein ökonomisches System, das auf solch volatilen Preissignalen beruht, bildet den Kern des westlichen Kapitalismus.An der Börse ausgehandelte Rohstoffpreise sind denkbar akkurat – allerdings muss man sich von der Vorstellung verabschieden, dass es einen kalkulierbaren “fairen” Preis und letztlich ein natürliches Umfeld der Stabilität geben kann. In wirtschaftlich unruhigen Zeiten gibt es nicht wenige Menschen, die sich eine Welt der Stabilität zurückwünschen. Dazu muss man nur auf die Reaktionen auf die “Great Depression” in den 1930er Jahren zurückblicken. Oligopolartige InteressenHier liegt auch der Hauptgrund, weshalb es weltweit nur rund 40 verschiedene börsennotierte Rohstoffe gibt: Die traditionellen wirtschaftlichen und politischen Eliten möchten ihren althergebrachten Einfluss und ihre Hausmacht nicht verlieren. Oligopolartige Interessen in Form merkantilistischer Politik unterminieren die freie Preisbildung nicht nur in Schwellenländern, sondern auch in entwickelten Gesellschaften. Daher gibt es beispielsweise keinen freien Stahlmarkt in Deutschland oder keine Erdölbörse in Saudi-Arabien, keinen offenen Markt für Weizen aus der Schweiz oder eine Diamantenbörse in Russland.Im Rohstoffsektor ist die freie Preisbildung nach wie vor eine absolute Ausnahme von der Regel. Es würde darum nicht vieler Maßnahmen bedürfen, um Preiskontrollen einzuführen oder die Rohstoffbörsen allesamt zu beschneiden, wenn Inflation oder Deflation zu stark ausgeprägt sind.Unsere gegenwärtige wirtschaftliche Malaise – geringes Wachstum, niedrige Inflation, Niedrigzinsen – hat ihre Ursprünge in der Tatsache, dass das Wachstum zu lange durch Schulden aufgepumpt wurde. Keiner kann derzeit sagen, zu welchem Resultat der derzeitige Schuldenabbau oder das aktuelle Niedrigzinsumfeld führt. Historisch betrachtet gibt es drei mögliche Szenarien: schädliche Inflation oder Deflation einerseits und ein glimpflicher Ausgang andererseits.Die beiden ersten Varianten gab es in der Geschichte häufig, die letzte ist in der Vergangenheit die Ausnahme geblieben. Dabei waren es die Rohstoffmärkte, vor allen anderen Indikatoren, die den späteren Ausgang antizipiert haben. Negative Signale der Rohstoffmärkte hat die Gesellschaft jedoch nie begrüßt. Wenn der Markt eine massive inflationäre oder deflationäre Krise andeutete, wurde er stattdessen als zu gefährlich befunden und schlussendlich geschlossen. Rohstoffmärkte können uns aber nur bei der Navigation zu einer “neutralen” Lösung der wirtschaftlichen Malaise helfen, wenn wir sie lassen. Es führt kein Weg vorbeiEs ist davon auszugehen, dass der Schuldenabbau und damit letztlich die weltweiten Verbraucherpreise das globale Umfeld für Investments prägen werden. Die eine Assetklasse, die diese gesamtwirtschaftlichen Aussichten am besten abbildet, sind die Rohstoffe. Wenn die Deflation zurückkehrt, werden Long-Short-Rohstoffstrategien zu den besten verfügbaren Strategien gehören. Wenn die Inflation dagegen steigt, werden sich Long-only-Strategien für Rohstoffe besser entwickeln als Anleihen und Aktien. Bei einem “neutralen” Ausgang des Schuldenabbauprozesses wird es schwieriger sein, mit Rohstoffinvestments zu punkten. Dennoch führt an Rohstoffen als Maßstab für andere Assetklassen auch in diesem Szenario kein Weg vorbei.Natürlich basieren diese Überlegungen auf der Annahme, dass die Rohstoffmärkte weiterhin in der Weise funktionieren, wie sie es seit der Aufhebung der Preiskontrollen in den 1980er Jahren getan haben. Sollten wir uns allerdings entscheiden, den Spiegel, den uns die Rohstoffmärkte vorhalten, zu zertrümmern, indem wir ehrliche Zweifel gegen scheinbare Sicherheit eintauschen, laufen wir Gefahr, uns in einem Labyrinth zu verirren.—Christian Gerlach Portfoliomanager Commodities bei GAM Investment Management