Sicherheit wird bestraft und Risiko stattdessen belohnt

Grundsätze einer soliden Geldpolitik müssen wieder die Oberhand gewinnen

Sicherheit wird bestraft und Risiko stattdessen belohnt

Seit Jahren sind die Zinsen im Euroraum quasi abgeschafft. Statt der für diesen Herbst vielfach erwarteten “Zinswende” hat die Europäische Zentralbank (EZB) durch ihre geldpolitischen Entscheidungen im September die Situation noch einmal nachhaltig verschärft. Ein negativer Einlagenzins von -0,5 % ist Realität – und zwar für einen langen Zeitraum. Führende EZB-Geldpolitiker sprechen zudem davon, dass der Spielraum für weitere Maßnahmen noch nicht ausgeschöpft sei. Das Zielbild einer Inflationsrate nahe 2 % wird weiter postuliert. Dramatische NebenwirkungenDabei sehen viele Experten die Wirksamkeit des EZB-Pakets in puncto Ankurbelung von Konjunktur und Konsum seit geraumer Zeit kritisch. Außerdem sind die Nebenwirkungen dieser “Geldspritze” dramatisch. Die EZB sorgt mit ihrer Geldpolitik für massive gesellschafts- und sozialpolitische Umwälzungen, deren Folgen wir noch Jahrzehnte spüren werden. Es mutet schon paradox an, dass ausgerechnet eine Institution, die eigentlich die Geldwertstabilität garantieren soll, mit ihrer Geldpolitik die Inflation anheizen will. Breite VermögensumverteilungDoch der massivste gesellschaftspolitische Eingriff durch die EZB-Geldpolitik ist eine breite Umverteilung von Vermögen von unten nach oben. Die breite Masse der Kleinsparerinnen und -sparer erhält keine Zinsen mehr auf das Ersparte beziehungsweise die Altersvorsorge. Die angestrebte Inflation von 2 % nagt zusätzlich an der Kaufkraft des Ersparten. Zusätzliche Negativzinsen, die jetzt drohen, führen zu weiterem Kaufkraftverlust. Nur ein Beispiel: Wer heute 10 000 Euro auf einem Sparkonto hat, dem würde bis 2025 bei jährlich 2 % Inflation und unterstellten Negativzinsen ein Kaufkraftverlust von circa 1 500 Euro entstehen. Das, was die EZB anstrebt, schädigt die deutschen Sparerinnen und Sparer.Nun gibt es das Argument, dass jeder Kleinsparer, der Geld zurücklegen wolle, in alternative Anlageformen investieren könne. Diese These greift jedoch zu kurz, stattdessen profitieren größere Vermögen überproportional. Professionell gemanagt, auf verschiedene Risikoklassen verteilt und/oder in Immobilien angelegt, wachsen sie beständig. Der durch die EZB-Politik angeheizte Immobilien- und Börsenboom sorgte in den vergangenen Jahren zudem dafür, dass diejenigen, die ohnehin schon stark in Immobilien und Aktien investiert haben, ihr Vermögen ohne eigenes Zutun massiv erhöhen konnten.Um eine positive Rendite oberhalb der Inflationsrate erzielen zu können, ist es seit einiger Zeit für Anlegerinnen und Anleger quasi unvermeidlich, Risiken einzugehen. Doch vielfach fehlen den Sparenden aufgrund des begrenzten Anlagevolumens die Diversifikationsmöglichkeiten. Problematisch ist vor allem, dass die Risikoprämie derzeit Haupttreiber ist, um überhaupt noch eine positive Rendite im festverzinslichen Anlagebereich erzielen zu können. Sicherheit wird somit bestraft, Risiko wird stattdessen belohnt. Tiefgreifender WertewandelAll dies stellt einen dramatischen Paradigmenwechsel dar und führt zu einem tiefgreifenden Wertewandel. Volkswirtschaftliche Theorien und die jahrhundertelange Praxis basieren auf dem Grundsatz, dass derjenige, der Geld verleiht, also auf Liquidität oder Konsum verzichtet, mit einem Zins “entlohnt” wird. Eine negative Verzinsung widerspricht diesem Grundsatz. Weitsicht, Vorsorge und Konsumverzicht sind quasi out und nicht erwünscht.Bald wird eine ganze Generation in der paradoxen Zinslandschaft, in der wir jetzt leben und weiterleben werden, aufgewachsen sein. Eine Generation, die den Wert von Vorsorge und Sparen nicht gelernt hat und die bewusst aufgefordert wird, zu konsumieren. Die vielleicht nur noch von Erzählungen der Eltern weiß, dass Geld, das auf dem Sparbuch lag, sich vermehrte und es sich lohnte, auf etwas zu verzichten, um sich später mehr leisten zu können. Viele junge Menschen verlieren den Grundgedanken des Sparens und lernen das Leben “auf Pump”.Auch gesamtwirtschaftlich werden Fehlentwicklungen gefördert. Durch die Geldpolitik der EZB soll der unmittelbare Konsum angekurbelt werden – auch Entscheidungen für Konsum, der ökonomisch überhaupt nicht sinnvoll ist. Darauf reagieren – wie in einer Marktwirtschaft üblich – die Unternehmen. Statt langfristige und nachhaltige Innovationen und Investitionen zu planen, konzentrieren sich die Unternehmen auf Kapazitätsausweitungen, um den kurzfristigen Konsum zu befriedigen. Künstlich angeheizter Konsum bedeutet aber zusätzlichen, unnötigen Ressourcenverbrauch statt innovativer und nachhaltiger Konzepte.Gleichzeitig geht mit der Null- und Negativzinspolitik der EZB die Gefahr einher, dass Unternehmen künstlich am Leben gehalten werden, deren Strukturen oder Geschäftsmodell nicht mehr zeitgemäß sind. Geringe Risikoaufschläge und somit ein insgesamt geringer Zinssatz reduzieren die Zinslast, die sich Unternehmen ohne nachhaltiges Geschäftsmodell in einem “normalen” Zinsumfeld nicht leisten könnten. Durch die große Liquidität am Markt findet eine natürliche Selektion nicht oder nur noch unzureichend statt. Die Marktmechanismen sind außer Kraft gesetzt.Die Geldpolitik der EZB ist auf das Hier und Jetzt fokussiert. Dadurch ist für viele Bürgerinnen und Bürger die Vorsorge für das Alter nicht mehr attraktiv. Fakt ist jedoch, wer heute nicht vorsorgt, dem fehlt im Alter die nötige Absicherung. Dies umso mehr, weil durch das Agieren der EZB klassische Vorsorgeprodukte wie Lebens- und Rentenversicherungen stark unter Druck sind. Aufgrund des Zinsniveaus können prognostizierte Überschüsse nicht mehr erwirtschaftet werden. Leistungen fallen deshalb zum Renteneintritt deutlich geringer aus als vorher angenommen. Es entsteht eine zusätzliche Rentenlücke, die gerade durch den Abschluss der privaten Altersvorsorge eigentlich geschlossen beziehungsweise verringert werden sollte.Auch der Abschluss eines Bausparvertrags, um sich zukünftig den Traum eines Eigenheims erfüllen zu können, hat durch die aktuelle Zinssituation deutlich an Attraktivität verloren. Durch die Null- und Negativzinsphase gepaart mit der Entwicklung der Immobilienpreise, wird es zukünftig immer weniger “Normalverdienenden” möglich sein, Wohneigentum zu erwerben.Doch das Aufbegehren der politisch Verantwortlichen gegen diese Geldpolitik bleibt aus. Warum? Ganz einfach: Die größten Profiteure der umstrittenen EZB-Maßnahmen sind die Staaten beziehungsweise die gesamte öffentliche Hand. Inzwischen werden zahlreiche europäische Staatsanleihen zu negativen Renditen begeben. Die EZB hat den Markt zum Beispiel für sichere deutsche Staatsanleihen durch ihre Anleihekäufe derart leergefegt, dass selbst bei einem Erwerb einer 30-jährigen Staatsanleihe eine negative Rendite erzielt wird.Wenn Staaten zur Endfälligkeit weniger tilgen müssen, als den Betrag, den sie ursprünglich bei ihren Gläubigern aufgenommen haben, können Sie sich paradoxerweise mit neuen Schulden entschulden und zudem noch teure Wahlversprechen einlösen. Die Hoffnung, durch den geldpolitischen Kurs der EZB neben der Konjunkturankurbelung auch eine Sanierung der Staatsfinanzen zu erreichen, ist zerstoben. Wenn es derzeit einfacher, günstiger und politisch weniger risikoreich ist, neue Schulden aufzunehmen, statt unbequeme, aber sinnvolle Reformvorhaben durchzusetzen, kann und wird eine Sanierung maroder Staatshaushalte nicht gelingen. Die öffentliche Hand jedenfalls hat aufgrund dieser für sie so komfortablen Situation keinerlei Interesse, die Null- und Negativzinspolitik der EZB zurückzudrehen, selbst wenn dies zu Lasten künftiger Generationen geht.Die Aussage “whatever it takes” von Mario Draghi hat eine fatale Unbegrenztheit des vermeintlichen EZB-Handlungsspektrums suggeriert. Doch alles Irdische ist begrenzt. Und auch die EZB kann langfristig ökonomische Grundsätze nicht außer Kraft setzen. Das Wasser fließt nicht von allein den Berg hinauf. Es muss hochgepumpt werden. Und wenn die Pumpkraft einst nachlässt, schießt es kräftig zurück. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass die Grundsätze einer soliden und nachhaltigen Geldpolitik bald wieder die Oberhand gewinnen. Michael Breuer, Präsident des Rheinischen Sparkassen- und Giroverbandes (RSGV)