So klappt Europa
Was ist das: Alle europäischen Länder schließen sich zu einer Organisation zusammen, um gemeinsame Ziele zu erreichen und sich nach gleichen Regeln im friedlichen Wettbewerb untereinander auszutauschen. Nein, hier geht es nicht um eine Beschreibung der Europäischen Union. Es ist mal wieder Fußball-Europameisterschaft. Gleiche Regeln für alleWohl nirgendwo funktioniert Europa so gut wie im Fußball – den Eurovision Song Contest einmal ausgenommen. Der einheitliche (Fußball-)Binnenmarkt ist perfekt, der freie Austausch von (Ablöse- und TV-Rechte-)Kapital, (Transfer- wie Fan-)Personal sowie fußballerischen (Champions-League-)Dienstleistungen läuft reibungslos. Wovon Europa-Föderalisten nur träumen können, ist im europäischen Fußball längst gang und gäbe: Überall gelten die gleichen Regeln, überwacht durch die europäische Fußballkommission Uefa. An diese ist ein Großteil der Einnahmen abzugeben – an einem geeigneten Finanzausgleichssystem zwischen den reichen und den armen Vereinen wird noch gearbeitet, muss man doch auch hier ein enormes regionales Leistungsgefälle in Europa feststellen.Zwar bestimmen in Fußball-Europa die großen Kickernationen, wo es lang geht: An Deutschland, Frankreich, England und Italien kommt niemand vorbei. Aber auch die kleinen kommen zu ihrem Recht und können mehr als Akzente setzen: Griechenland gewinnt 2004 den Titel, Portugal wird im gleichen Jahr Vize-Europameister, ebenso Tschechien (1996) oder Belgien (1980) und die Niederlande. Na ja, Kopf hoch, wird schon wieder.Würde man dagegen die Maßstäbe des politischen Europas auf den Fußball übertragen: Kein einziges geordnetes Spiel käme zustande. Würde Großbritannien einen Eintrittsrabatt für englische Fans verlangen, müssten die Partien wegen Rebellion der übrigen Zuschauer wahrscheinlich abgesagt werden. Auch dass man mitten im Match eine Abstimmung darüber anberaumt, ob man überhaupt weiterspielen will, wäre dem Turnierverlauf nicht besonders förderlich. Und es wäre mehr als eine Unsitte, würden die Russen das Spielfeld neu zeichnen, indem sie ihren Sechzehnmeterraum einfach bis zur Mittellinie ausdehnten. Wenn etwa Ungarn und Polen die unabhängigen Schiedsrichter am liebsten gegen Angehörige des eigenen Verbandes austauschen möchten, würde das bei manchem Gegner ebenfalls auf Unverständnis stoßen. Schwierige VorhersageAm schlimmsten aber wirken sich Regeländerungen während des Spiels aus. Mit der faktischen Aufgabe der Schuldenkriterien des Maastricht-Vertrages hat etwa die Währungsunion die fiskalische Abseitsregel mitten im Spiel einfach ausgesetzt. Seitdem lauern einzelne Spieler einsam vor dem Tor des Gegners und warten auf lange Schuldenpässe, die sie dann in Tore und Punkte für die nächste Wahl verwandeln können. Der Ökonom spricht von zeitinkonsistenten Anreizen. So kompliziert sich das anhört, so schädlich ist es für einen vernünftigen Spielverlauf.Der Verlauf des bevorstehenden Turniers dürfte mittlerweile genauso schwierig vorherzusehen sein wie das Ergebnis eines europäischen Referendums. Die DekaBank lässt sich hiervon jedoch nicht einschüchtern und simuliert auch diesmal – wie bei jedem fußballerischen Großereignis – den Turnierverlauf. Die wesentlichen Einflussfaktoren sind dabei die hervorragend dokumentierten Spielstärken der Teilnehmermannschaften. Die hierbei ermittelten Ergebnisse werden dem schier unerschöpflichen Fußball-Sachverstand gegenübergestellt, der auch in Volkswirten schlummert. Der Vorzug ist hier selbstverständlich den quantitativen Modellen zu geben: Nachdem bei Schach, Jeopardy und Go inzwischen der Computer die Oberhand über die Menschheit errungen hat, wäre es ja gelacht, wenn man bei Fußball-Prognosen nicht auch etwas hinbekäme, was dem Sachverstand menschlicher Experten überlegen wäre. Ansätze stimmen übereinÜber die implizite Annahme, dass eine Modellstruktur, welche die Fußball-EM 2012 korrekt abbildet, auch heute noch gültig ist, kann man großzügig hinweggehen. Schließlich sind dies die Probleme, die in der Prognosepraxis der Finanzmärkte nicht anders auftauchen. In Bezug auf den Turnierausgang herrscht zwischen Expertentipp und quantitativem Modell Einigkeit: Deutschland wird Spanien im Finale schlagen und mithin Europameister werden.Als weitere Hauptanwärter auf den Titel werden in beiden Ansätzen Frankreich, von den Experten Belgien und vom Modell England angesehen. Hier offenbart sich eine mögliche Schwäche des quantitativen Ansatzes, der keinen speziellen England-Elfmeter-Faktor hat und somit die Chancen der Three Lions in der K.-o.-Phase möglicherweise etwas überschätzt. Dafür ist das quantitative Modell äußerst präzise: Die Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland Europameister wird, ist 27,17846 %, diejenige für das Ausscheiden Deutschlands in der Vorrunde 19,78961 %. Ein solches Ereignis ist für die menschlichen Experten schlicht undenkbar, was eines der herausragenden Ergebnisse der Behavioral-Finance-Forschung bestätigt: Dinge, die von Menschen für unmöglich gehalten werden, treten mit ungefähr 20 % Wahrscheinlichkeit ein. Die Experten sehen die deutsche Mannschaft nach einem souveränen Gewinn der Gruppe C im Achtelfinale die Slowakei schlagen, die sich als zweitbester Gruppendritter dafür qualifiziert. Daraufhin werden im Viertelfinale Italien und im Halbfinale Frankreich von der deutschen Mannschaft aus dem Turnier befördert. Bis dann im Finale die Spanier an der Reihe sind. Es bleibt nur eine MöglichkeitDas quantitative Modell sieht als die wahrscheinlichsten deutschen Achtelfinalgegner Frankreich, die Schweiz, Rumänien und Albanien. Im Viertelfinale stehen dann in den simulierten Turnierverläufen am häufigsten Spanien, Belgien und Kroatien der deutschen Mannschaft gegenüber. Die meisten Halbfinale mit deutscher Beteiligung sehen England, Frankreich und Portugal als jeweiligen Gegner von Jogi Löws Mannen, und für das Finale tauchen vorwiegend Spanien, Frankreich und England als Kontrahenten auf. Zur Interpretation dieser Ergebnisse muss man allerdings wohl auf die ultimativen Worte des Altmeisters der wissenschaftlichen Fußball-Prognostik, Franz Beckenbauer, hinweisen: “Es gibt nur eine Möglichkeit: Sieg, Unentschieden oder Niederlage.” Abstimmung über BrexitSportliche und politische Entwicklungen überschneiden sich bei diesem Turnier: Am Ende dieser EM könnte Europa anders aussehen als zu Beginn, denn mittendrin, nach Abschluss der Vorrundenspiele, findet in Großbritannien die Abstimmung über den weiteren Verbleib des Landes in der Europäischen Union statt. Selbst wenn britische Fußballfans sich schon Sorgen machen, dass nach einem Brexit der englische Fußball ohne den Zugang zu ausländischen Talenten leiden könnte, gibt es auch hier die Gegenmeinung, dass eine verstärkte Konzentration auf die eigenen Ressourcen überhaupt erst wieder einen englischen Fußball möglich mache.Wie generell lässt sich die Frage einer Vorteilhaftigkeit des Brexit nicht ökonomisch beantworten, sondern nur politisch. Fest scheint lediglich zu stehen, dass die britischen Teams – es sind aufgrund der Ausnahmeregelungen für Großbritannien ja diesmal drei im Turnier – selbst bei einem Brexit-Ergebnis nicht mangels Visum und Arbeitserlaubnis den Kontinent und damit das Turnier fluchtartig verlassen müssen.Was lässt sich also aus der Welt des funktionierenden (Fußball-)Europas lernen für die Welt des recht und schlecht vor sich hin wurstelnden (politischen) Europas? Zum Ersten wohl: Regeln einhalten! Den Deutschen als Obsession angekreidet, scheint die Einhaltung von Regeln wohl zumindest für das wirtschaftliche Geschehen durchaus vorteilhaft, hier ist der Fußballplatz ein schönes Anschauungsbeispiel.Dann: Nur das vereinheitlichen, was notwendig ist. Wer nach den Spielregeln auch noch die Mannschaftsauswahl, die Schuhgröße der Akteure oder die Farbe der Trikots bestimmen will, wird auf wenig Verständnis stoßen. Hinter der britischen Referendum-Initiative steht ja eigentlich die Forderung nach einer Aufgabenkritik und Neuaufstellung der Europäischen Union, in der auch Platz sein muss für Länder, die nicht alle Turniere mitspielen wollen.Und ebenfalls ganz wichtig: Ohne die Zustimmung der Fans geht es nicht. Wer eine Europapolitik der stetigen politischen Integration anstrebt, muss dies den Bürgern eher zweimal erklären und mit ihnen darüber diskutieren, was daran gut ist und was es andererseits auch kosten kann. Andernfalls könnten die Zuschauer das Interesse verlieren und sich anderen Sportarten zuwenden. Metapher für die EUUnd last, but not least: Nationalismus ist nichts Schlechtes, im Gegenteil, er stellt eine wichtige Identifikationsfläche nicht nur für Fußballfans dar, und am besten funktioniert er auf dem Platz. Am Ende profitiert jedoch nicht nur der Sieger, heißt er nun Deutschland, Spanien oder England. Am Ende profitieren alle, die dabei waren. Die Kunst besteht darin, alle nach ihrem System spielen zu lassen und trotzdem die Regeln einzuhalten. Damit ist die EM am Ende dann doch eine schöne Metapher für die EU.—Ulrich Kater, Chefvolkswirt der DekaBank