Sorge um den Zustand Europas lässt Kritiker an die EU heranrücken
Von Tobias Fischer, OffenburgGerade einmal 14 Kilometer ist Frankreich von der Messe Offenburg entfernt, doch bisweilen trennt die Landesgrenze Welten: Herrschen hüben Stabilitätsorientierung und Widerstand gegen eine europäische Einlagensicherung, so wird drüben einer weitaus laxeren Finanzpolitik das Wort geredet. Entsprechende Vorschläge, die der französische Präsident Emmanuel Macron im September 2017 an der Pariser Sorbonne-Universität zur Fortentwicklung der Europäischen Union unterbreitet hat, haben die hiesigen Sparkassen sehr wohl vernommen, sie finden bei ihnen aber kein Gehör. So viel wird beim 12. baden-württembergischen Sparkassentag in Offenburg-Ortenau klipp und klar. Edis hat hier keine ChanceUnter dem Applaus von 1 200 Vertretern der 51 Sparkassen plus Verbundunternehmen aus dem ganzen Bundesland, die alle drei Jahre zusammentreffen, erteilen Gastgeber Peter Schneider, Präsident des regionalen Sparkassenverbandes, der oberste Sparkassen-Chef Helmut Schleweis, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, sowie der Wirtschaftsweise Volker Wieland einer europäischen Einlagensicherung (Edis) – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – eine Absage. Viel ist hier, im südwestlichen Zipfel Deutschlands, von Solidität die Rede, und von Bedingungen, die zunächst erfüllt werden müssten, bis man europaweit füreinander eintrete. “Wer Solidarität von Sparkassen einfordert, der muss zunächst den Anspruch von Solidität und Stabilität an sich selbst stellen. Nur dann sind wir zur Solidarität bereit”, sagt Schneider. Das Hauptproblem seien grundlegend verschiedene Vorstellungen, was sich hinter diesen Begriffen verberge, verstünden doch einige Länder unter Solidarität nur Schuldenmachen und weitere Transfers. So verhärtet die Fronten in Finanzbelangen sind, so einig sind sich die Sparkassenvertreter und ihre Gäste, wenn es um Europa als politisches Gebilde geht, tragen sie doch dem Umstand Rechnung, dass diese Zeiten außergewöhnlich sind und hart, bisweilen außergewöhnlich hart. Das Wort Krise ist in aller Munde, immer wieder. “Bei früheren Sparkassentagen redeten wir über Geld, jetzt reden wir über die Zukunft Europas”, sagt etwa Landesvater Winfried Kretschmann. Mittlerweile seien Populisten in viele Parlamente eingezogen, und Europa habe sich gegen seinen bislang engsten Verbündeten, die USA, zur Wehr zu setzen. “Wir stehen alleine da: Eine brandgefährliche Situation”, verdeutlicht er den Ernst der Lage.Und so zeigen sich selbst jene, die in Finanzdingen üblicherweise klare Kante demonstrieren, ganz versöhnlich, wenn es um Europa als großes Ganzes geht – ungeachtet aller Mängel, Unvollkommenheiten und Frustrationen dieses in der Weltgeschichte einzigartigen Konstrukts. Obwohl es nicht immer nach Liebeserklärung klingt, wird ein Bekenntnis abgelegt: In diesen stürmischen Zeiten ist Europa mehr denn je vonnöten, auch wenn sich über die Modalitäten trefflich streiten lässt. Schleweis, Schneider und Wieland sparen nicht an Kritik – alles andere als ungerechtfertigt -, etwa, als der Wirtschaftsweise mahnt, dass die EU kein deutsch-französisches Spezialprojekt sein dürfe, sondern jedem Mitglied besser zugehört und zudem Ursachenforschung betrieben werden müsse, weshalb die Briten aussteigen. Verteilungskämpfe drohenDer Tadel ist Ausdruck der Sorge, dass eine in ihrer Sicht verfehlte Geld-, Wirtschafts- und Finanzpolitik die Spaltung des Kontinents vertieft oder ihn vollends auseinanderbrechen lässt. Er sehe nicht, dass eine vergemeinschaftete Einlagensicherung die EU einen werde, führt Schleweis aus. Im Gegenteil: “Immer neue Sicherungstöpfe heißt, immer neue Verteilungskämpfe zu provozieren.” Entscheidend sei vielmehr, dass jedes Land seine Hausaufgaben erledige, dann sei ein starkes, geeintes Europa machbar. Ins selbe Horn stößt Wieland. Das Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung warnt vor gefährlichen Neiddebatten infolge tiefgreifender finanzieller Umverteilungen. “Das kann dazu führen, dass die Gegner der EU noch mehr Zulauf bekommen.” Ausdrücklich spricht er sich für die Vollendung der Bankenunion, also Edis aus, aber nicht jetzt, unter diesen Vorzeichen. Zuvor müssten die Nullgewichtung von Staatsanleihen in Bankbilanzen, mithin ihre Beurteilung als risikofrei, beendet, die Insolvenzrechte harmonisiert und der Berg an faulen Krediten abgetragen werden. Statt sich auf Macrons finanzpolitische Vorschläge zu fokussieren, solle man sich ans Werk machen, seine Ideen zu einer gemeinsamen Interventionstruppe und Grenzschutzpolizei umzusetzen. Die stärkten die Gemeinschaft, statt zu spalten. Häufung von KrisenWie einzigartig das fragile Gebilde EU ist, wie alles andere als selbstverständlich die friedlichen Zeiten sind, in denen wir leben, verdeutlicht Sir Christopher Clark. Der durch die TV-Serie “Europa-Saga” bekannt gewordene australische Historiker, der in seinem Buch “Die Schlafwandler” den Weg der Eliten in den Ersten Weltkrieg beleuchtete, gibt zu bedenken: “Wie vor 1914 können wir heute Anzeichen für eine wachsende Unberechenbarkeit des Systems erkennen.” Damals wie heute sei eine besondere Häufung von Krisen zu beobachten. Und damals wie heute sei das Verhalten vieler maßgeblicher Staatschefs undurchsichtig, mit dem Unterschied, dass das Verhalten des US-Präsidenten beispiellos sei. Allerdings kann Clark sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hinter dem sprunghaften, irrationalen Auftreten Donald Trumps, der in seiner jüngsten Tirade den Staatschef eines der engsten Verbündeten, Kanadas, beleidigt hat, ein Plan stecken könnte: Unberechenbarkeit als Mittel, um die eigenen Interessen rücksichtslos durchzusetzen. Ob Kalkül oder nicht, es ist schlimm genug, wenn “der einst als Führer der freien Welt bezeichnete Präsident der Vereinigten Staaten weder für den Westen als Wertegemeinschaft noch für die Normen der freiheitlich-demokratischen Ordnung den geringsten Respekt aufbringt”, wie Clark ausführt. Das spiele ihren Herausforderern in die Hände – den Regimen im Iran und der Türkei, einem erstarkenden und zunehmend selbstbewusst auftretenden China etwa oder Wladimir Putin, der eine revisionistische Agenda vorantreibe und sich über jeden freue, der den Westen spalte. Eines dürfe nicht vergessen werden, mahnt Clark: “1914 hat mangelndes Vertrauen unter Verbündeten genauso zum Krieg beigetragen wie Argwohn und Misstrauen zwischen Gegnern.”Die Verunsicherung, die die Krisenhaftigkeit unserer Zeit hervorbringe, führt der Historiker darauf zurück, dass anders als 1989/90, als mit dem friedlich beendeten Kalten Krieg gar das Ende der Geschichte ausgerufen wurde und es vielen so schien, als breche ein Zeitalter fortwährender Eintracht an, nun “das Ende der Geschichte, die uns eine Zukunft gab”, gekommen sei. Deshalb pflichtet er Macron bei, der von der Notwendigkeit sprach, die Zukunft neu zu besetzen. Darauf sollten die Europäer ihr Augenmerk richten, so Clark. Was bleibt vom Treffen der Sparkassen im Südwesten? Die Erkenntnis, dass Europa zwar unvollkommen ist, mitunter ein Ärgernis, ja eine Zumutung. Dass Europa aber auch allein schon deshalb nötig ist, weil Kleinstaaterei keine Antwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sein kann. Oder wie Kretschmann es ausdrückt: “Europa ist unser Schicksal.”