Sorge um Solvenzquoten
Antje Kullrich.
Herr Grund, im vergangenen Frühjahr waren Sie angesichts der Auswirkungen der Pandemie auf die Versicherungswirtschaft relativ entspannt. Sind Sie das mit Blick in die Zukunft immer noch?
Es ist richtig, dass wir für das Jahr 2020 entspannt waren. Die Pandemie hat natürlich in einzelnen Sparten für Belastungen gesorgt, aber insgesamt haben sich die Versicherer als robust erwiesen. Für 2021 ist die Prognose etwas schwieriger, weil keiner weiß, wie sich die Pandemie weiter entwickelt und wie stark die Auswirkungen auf die Realwirtschaft sein werden. Im Moment machen wir uns keine zu großen Sorgen, aber betrachten schon sorgfältig die Risiken.
Das Tiefzinsumfeld scheint auf längere Sicht zementiert. Wie lange werden alle deutschen Lebensversicherer ihre Verpflichtungen noch erfüllen können?
Wir müssen unterscheiden zwischen der Erfüllung von Garantieverpflichtungen und der Frage, ob die Unternehmen auf Dauer die Kapitalanforderungen nach Solvency II einhalten. Denn nur bei einer Solvenzquote von über 100% können sie dauerhaft am Markt aktiv sein und Neugeschäft schreiben. Hinsichtlich der Erfüllbarkeit der Garantieverpflichtungen machen wir uns aufgrund der Ergebnisse unserer Prognoserechnungen derzeit weniger Sorgen.
Auch langfristig?
Unser Prognosezeitraum reicht über 15 Jahre. Hier sehen wir die Branche als ziemlich stabil an, was die Erfüllbarkeit der Garantien angeht. Dazu trägt die Zinszusatzreserve eine Menge bei. Wir rechnen hier weiterhin mit hohen Zuführungen – in diesem Jahr rund 10,4 Mrd. Euro wie im Vorjahr, 2022 um die 9 Mrd. Euro und von 2023 an wird die jährliche Summe dann voraussichtlich weiter sinken.
Bei den Solvenzquoten sind Sie skeptischer?
Wir haben in der Prognoserechnung das erste Mal auch Solvency-II-Zahlen über die nächsten 15 Jahre erhoben. Ich glaube, dass es für den einen oder anderen Lebensversicherer schwierig wird, nach dem Auslaufen der Übergangsmaßnahmen 2032 die Kapitalanforderungen zu erfüllen. Grund ist insbesondere der Niedrigzins. Ob da jeder in zehn Jahren noch eine Lizenz zum Neugeschäft haben wird, kann ich nicht sagen. Wir haben heute etwa 80 Lebensversicherer in Deutschland. Ich könnte mir vorstellen, dass der Trend zur Marktkonsolidierung weiter anhält.
Wie schnell greift die BaFin ein, wenn ein Unternehmen die Anforderungen nicht erfüllt?
Wenn ein Unternehmen ohne Übergangsmaßnahmen eine Solvenzquote unter 100 hat, muss es einen Maßnahmenplan vorlegen, wie es bis 2032 die Anforderungen einhalten will. Wir begleiten das sehr eng, diese Unternehmen stehen bei uns auf jeden Fall unter intensivierter Aufsicht. Ich rechne damit, dass auch wegen Corona die Zahl der Lebensversicherer unter intensivierter Aufsicht steigen wird.
Und wenn der Maßnahmenplan nicht reicht?
Wenn ein Unternehmen absehbar im Jahr 2032 die Solvenzkapitalanforderungen nicht einhalten wird, kann die BaFin ihm die Übergangsmaßnahmen entziehen. Dies könnte dazu führen, dass der Versicherer in letzter Konsequenz kein Neugeschäft mehr schreiben darf. Das wäre schon ein schwerwiegender Eingriff. Wir haben derzeit keinen konkreten Fall auf dem Tisch, aber perspektivisch schließe ich das nicht aus.
Woran machen Sie das fest?
Wir prüfen bei den vorgelegten Plänen, wie robust die Annahmen sind und ob die Maßnahmen ausreichen. Im Moment würde ich sagen, bei dem überwiegenden Teil der betroffenen Unternehmen ist die Lage beherrschbar, bei dem einen oder anderen muss man aber tiefer nachbohren. Und das tun wir.
Wenn die BaFin einem Unternehmen das Neugeschäft untersagen würde, bestünde dann nicht die Gefahr, dass es auch nicht alle Garantiezusagen an die bestehenden Kunden erfüllen kann?
Wir gehen davon aus, dass die Unternehmen grundsätzlich ihre Verpflichtungen erfüllen können, auch ohne Neugeschäft. Wir haben in den Prognoserechnungen einen dauerhaften Wiederanlagezins von nur 0,5% angesetzt und das ist angesichts des tatsächlichen Anlagemixes der deutschen Lebensversicherer ein vorsichtiger Ansatz.
Die geplante Überarbeitung des Regelwerks Solvency II würde die Situation noch verschärfen und die Kapitalanforderungen für die Lebensversicherer deutlich in die Höhe treiben, befürchtet die Branche. Teilen Sie die Kritik an den Vorschlägen der europäischen Aufsicht EIOPA? Oder begrüßen Sie die erwarteten höheren Kapitalanforderungen für die Lebensversicherer?
Der Solvency-II-Review beinhaltet einen ganzen Strauß von Themen und am Ende wurde bei EIOPA ein Kompromiss gefunden. Aber wie bei jedem Kompromiss gibt es Elemente, die einem mehr oder weniger gefallen. Zum Beispiel finde ich die stärkere Verankerung des Proportionalitätsprinzips sehr gut. Die Extrapolation der Zinsstrukturkurve, auf die Sie anspielen, ist aus Sicht der deutschen Versicherer hingegen nicht optimal. Jetzt sollen für einen längeren Zeitraum als 20 Jahre Marktwerte berücksichtigt werden; die vorgeschlagene neue Methodik entspricht ungefähr 25 Jahren nach der aktuellen Extrapolationsmethode. Das führt zu höheren Kapitalanforderungen wegen des tiefen Marktzinsniveaus.
Wie kämen die deutschen Lebensversicherer nach Ihrer Einschätzung damit klar? Die Aktuare befürchten um bis zu 100 Prozentpunkte niedrigere Solvenzquoten.
Die Unternehmen sind spätestens seit 2016 mit Hochdruck dabei, ihr Neugeschäft umzugestalten – weg von kapitalfordernden Garantieprodukten hin zu kapitalmarktorientierten Verträgen, die weniger Eigenmittel erfordern. Das heißt, mit jedem Jahr werden die Anforderungen nach Solvency II tendenziell geringer, weil alte, kapitalintensive Verträge aus dem Bestand gehen und neue kapitalschonende hinzukommen. Deshalb darf man nicht einfach rechnen, was die überarbeiteten Regeln heute bedeuten würden, sondern muss den Zeitpunkt der Einführung zugrunde legen. Das wird nach meiner Einschätzung nicht vor 2024 der Fall sein. Und wenn wir noch die Übergangszeit hinzurechnen, die EIOPA für die neue Methodik vorschlägt, dann haben wir die ganz scharfen Regeln erst ab 2032. Das entspannt die Situation zumindest ein wenig.
Das heißt, Sie könnten mit dem Solvency-II-Review in der vorliegenden Form leben?
Wenn das Gesamtpaket so bleibt, wie es ist, wäre das für uns einigermaßen akzeptabel – auch wenn beispielsweise bei der Extrapolation noch Luft nach oben besteht. Aber es handelt sich – wie erwähnt – um einen Kompromiss. Nun ist erst einmal die Europäische Kommission am Zug und wird einen eigenen Vorschlag unterbreiten. Dabei sollte – neben den erforderlichen Anpassungen an Solvency II – insbesondere auch die Ausgewogenheit des Gesamtpakets im Fokus stehen.
Wo haben Lebensversicherer und Pensionskassen jetzt noch Spielraum, sich für die Zukunft und die Anforderungen und Zusagen noch besser zu wappnen?
Die Pensionskassen haben nur noch kleine Spielräume, was Kosten- oder Kapitalanlageoptimierung sowie den Rechnungszins im Neugeschäft angeht. All diese Stellschrauben wurden ja auch mit unserer aktiven Unterstützung schon gedreht. Per saldo wird es nicht für jede Pensionskasse reichen. Das steht und fällt letztendlich mit der Bereitschaft der Trägerunternehmen, ihre Pensionskasse zu unterstützen. Corona mag das in dem einen oder anderen Fall erschweren. Für die nächsten Jahre gehe ich davon aus, dass wir uns ohne Kapitalzuschüsse von außen mit weiteren Fällen von Leistungskürzungen beschäftigen müssen. In diesem Jahr rechne ich allerdings nicht damit. Die gute Nachricht lautet, dass von 2022 an der Pensions-Sicherungs-Verein auch für Leistungen der betrieblichen Altersvorsorge einspringt, wenn diese über Pensionskassen durchgeführt werden. Das hat der Gesetzgeber ja auf den Weg gebracht.
Und die Spielräume bei den Lebensversicherern sind größer?
Ganz klar ja. Lebensversicherer können im Neugeschäft auf der Produktseite mehr machen, sie können biometrische Absicherungen wie zum Beispiel Berufsunfähigkeitsversicherungen in den Vordergrund stellen sowie kapitalschonende neue Produkte.
Was ist mit den Kosten?
Bei den Verwaltungskosten ist in den vergangenen Jahren schon viel passiert. Was die Abschlusskosten angeht, gibt es noch Gestaltungsspielraum. Eine gesetzliche Regelung, Stichwort Provisionsdeckel, wurde in der Lebensversicherung vorerst zurückgestellt. Handlungsbedarf besteht aus meiner Sicht aber nach wie vor. Deshalb ist das Thema auch Gegenstand unseres Aufsichtsprogramms. Wir schauen uns sehr genau an, wie Unternehmen mit ihren Vertriebskosten umgehen.
Was beschäftigt die Versicherungsaufsicht der BaFin 2021 noch?
Die Auswirkungen der Pandemie sind natürlich ein zentrales Thema. Was passiert mit den Kapitalanlagen der Versicherer? Wie entwickeln sich die Ausfallrisiken, speziell von Gewerbeimmobilien und Unternehmensanleihen? Das werden wir uns in diesem Jahr genau anschauen. Auch die niedrigen Zinsen werden uns weiter beschäftigen. Wir wollen in der intensivierten Aufsicht die Methoden verfeinern, zum Beispiel bei der Prognoserechnung. Dann beschäftigt uns der Umgang der Unternehmen mit Dividenden. Wir lassen uns von jedem Unternehmen, das extern eine Dividende ausschütten möchte, darlegen, ob das vor dem Hintergrund der weiter unsicheren Entwicklung vertretbar ist. Wir werden uns mit der IT bzw. IT-Governance der Unternehmen und Cybersicherheit beschäftigen. Auch die Cyberpolicen der Versicherer nehmen wir unter die Lupe. In diesen Bereichen sehen wir erhebliche Risiken und wollen da genau hinschauen. Und zum Schluss ist noch die Digitalisierung ein Thema, wie die Unternehmen ihre Transformation gestalten und wie sie sie finanzieren. Das Ganze kostet ja auch Geld.
Mit den neuen Kapitalanforderungen für Insurtechs ist die BaFin auf viel Widerstand in der Branche gestoßen. Was hat den Anstoß dafür gegeben, dass Insurtechs jetzt quasi von Beginn an durchfinanziert sein müssen?
Wir konzentrieren uns auf unseren Auftrag und das ist der Schutz der Versicherten. Wir haben bislang sechs Neugründungen von jungen digitalen Versicherern, sogenannten Insurtechs, zugelassen. Die Erfahrungen in der Aufsichtspraxis haben aber gezeigt, dass nicht alle Businesspläne der Insurtechs den Praxistest bestanden haben. Zum Teil sind die Unternehmen von zu optimistischen Annahmen ausgegangen: Die Kosten- und Schadenerwartungen waren teilweise zu niedrig, die Beitragseinnahmen zu hoch angesetzt. Damit war der nachhaltige Kapitalbedarf deutlich höher. Die BaFin hat jetzt auch keine neuen Kapitalanforderungen exklusiv für Insurtechs geschaffen, sondern die bereits bestehenden Regeln, die für sämtliche Neugründungen im Versicherungsbereich gelten, noch einmal klar adressiert. Versicherung unterscheidet sich von anderen Branchen. Wenn wir Geschäftsmodelle sehen, die darauf ausgerichtet sind, dass benötigtes Kapital in halbjährlichen oder jährlichen Abständen eingeworben werden muss, dann ist das mit einem nachhaltigen Geschäftsansatz nicht vereinbar. Daher achten wir auch bei Insurtechs darauf, dass sie für die ersten Jahre durchfinanziert sind.
Wie groß ist denn der Andrang von Neugründungen, die eine Versicherungslizenz beantragen?
Wir bekommen immer mal wieder etwas auf den Tisch. Das ist aber keine große Welle und erst recht keine Welle, die wir jetzt abblocken. Im Gegenteil: Der Dialog zu wirklichen Innovationen ist uns sehr wichtig. Ich sehe aber auch eher den Trend, dass Insurtechs sich als Dienstleister für etablierte Versicherer positionieren.
Der Vorstandschef und Gründer der Deutschen Familienversicherung (DFV), die sich selbst auch als Insurtech bezeichnet, ist die BaFin kürzlich scharf angegangen. Das Risiko, dass die BaFin bei der Beteiligung der DFV an der Chemie-Pflegerente Careflex einschreite, sei „nicht einmal in Ansätzen erkennbar“ gewesen.
Ich kann diese Äußerungen nicht nachvollziehen. Die BaFin stellt grundsätzlich keine überraschenden Anforderungen an Unternehmen, sondern kommuniziert frühzeitig und adressiert ihre Erwartungen.
Bei der BaFin selbst geht es derzeit auch turbulent zu. Nach dem Abgang von Herrn Hufeld ist auch eine Organisationsreform Ihrer Behörde geplant. Welche Auswirkungen könnte das auf die Versicherungsaufsicht haben?
Wir haben in der Versicherungsaufsicht seit der Einführung von Solvency II einen deutlichen Kulturwandel und das erfordert auch einen Kulturwandel der Aufseher. Es geht hin zu einer proaktiven, prinzipienorientierten, datengetriebenen Aufsicht – das ist das Leitmotiv von Solvency II. Insofern spüren wir Rückenwind und Ansporn, wenn das Projekt der BaFin jetzt lautet „Mehr Biss für die Finanzaufsicht“.
Das Interview führte