LEITARTIKEL

Spannende Langeweile

Oliver Bäte? Richtig, so heißt er, der neue Vorstandsvorsitzende der Allianz. Der breiten Öffentlichkeit ist sein Name nicht geläufig, der große Auftritt bleibt bisher aus. Dabei übt Bäte sein Amt am heutigen Donnerstag bereits seit 100 Tagen aus,...

Spannende Langeweile

Oliver Bäte? Richtig, so heißt er, der neue Vorstandsvorsitzende der Allianz. Der breiten Öffentlichkeit ist sein Name nicht geläufig, der große Auftritt bleibt bisher aus. Dabei übt Bäte sein Amt am heutigen Donnerstag bereits seit 100 Tagen aus, nachdem er sich gegen anfangs vier andere interne und rund zehn externe Kandidaten durchgesetzt hatte. Mehr noch: Der 50-Jährige war nicht nur Operating Officer, Finanz- und Südeuropa-Vorstand des Münchner Versicherers, sondern hat nach seiner Berufung an die Allianz-Spitze sieben Monate lang eine Zuhör-Tour quer durch den Konzern und die Finanz-Community absolviert. Viel Zeit für eine konkrete Meinungsbildung, eigentlich. Sein Programm möchte er trotzdem erst Ende November vorstellen.Die Zurückhaltung signalisiert, dass es keinen Grund zur Hektik gibt. Die Allianz ist erfolgreich unterwegs. Weltweit steht sie auf Platz 1 in ihrer Branche. Nicht eine Schieflage muss beherzt angegangen werden, sondern ein langfristig tragfähiges Konzept sollte vorgelegt werden. Zwei weitere Gründe erfordern, dass Analyse und Schlussfolgerungen sitzen.Erstens haben die geschäftlichen Erfolge die Absprunghöhe für Bäte auf ein Niveau geschraubt, das Schwindelfreiheit erfordert. Extern droht jedes Wanken zu Enttäuschungen zu führen, wie die Investoren vorführen. In den vergangenen drei Quartalen hat die Allianz-Aktie bei der Zahlenpräsentation zweimal schlechter abgeschnitten als die anderen Dax-Werte. Intern wächst das Beharrungsvermögen mit jedem Renditeanstieg. Warum etwas ändern, was exzellent läuft? So lautet die Frage aus Perspektive manches Beschäftigten.Der zweite Grund für den zeitlichen Vorlauf ist in der Biografie von Bäte zu suchen. Er arbeitet zwar schon seit dem Jahr 2008 für die Allianz, wurde jedoch bei McKinsey sozialisiert. Sein Vorgänger Michael Diekmann hielt es nach Bätes Berufung für angezeigt, konzernintern seine Ansicht zu dokumentieren, man solle irgendwo mal im Vertrieb gewesen sein. Diese Leerstelle ersetzt der neue Chef durch einen extrem partizipativen Prozess der Programmfindung. Seine Führungskräfte sollen sich als Teil der Lösungserarbeitung erleben. Nur so steigt die Chance, dass sie das Programm überzeugt vertreten und als Transmissionsriemen bis in den Vertrieb hinein wirken.Die Herausforderungen für die Allianz sind gewaltig. Im Heimatmarkt Europa schrumpfen die versicherten Werte perspektivisch, die Regulierer nehmen den systemrelevanten Versicherer genau unter die Lupe, die niedrigen Zinsen unterhöhlen die Kapitalerträge, in der Lebensversicherung erweist sich das Konzept der Garantien als unhaltbar und die Sachversicherung dürfte ihr aktuell sehr profitables Preisniveau kaum verteidigen können. Noch wichtiger: So wie die Versicherungswirtschaft atmet auch die Allianz noch immer den Geist jener Zeit vor der Liberalisierung des Marktes, als Standardisierung und Tarifaufsicht den Rahmen jeglichen Denkens bildeten. Diese Kultur aber passt nicht zu den heutigen einschneidenden Veränderungen im Umfeld.Wo setzt Bäte an? Mit fünf Themen, die er dem Management für die Debatte vorgegeben hat, schlägt er Pflöcke ein. Konsequente Kundenorientierung und durchgängige Digitalisierung stehen oben auf der Liste. Beide Aspekte haben keinen Wow-Effekt, sondern einen Gähn-Faktor. Kunden sollten schon heute im Mittelpunkt stehen, lautet die Reaktion, und die Digitalisierung sei ebenfalls eine Selbstverständlichkeit. Doch langweilig ist die Sache deswegen noch lange nicht. Denn es ist eine Kunst, Geschäft ausgehend von sich wandelnden Bedürfnissen zu betreiben. Zudem ist Digitalisierung kein Selbstläufer in der regulierten Welt komplexer Versicherungsprodukte.Die Sprengkraft der Neuausrichtung offenbart der nächste Schritt. Denn wer von den Kundenbedürfnissen aus denkt, der muss irgendwann die Aufteilung in Sparten in Frage stellen. Großkonzerne wollen schon heute einen Schutz ihrer Bilanz statt das Abdecken einzelner Risiken. Privatkunden werden künftig komplette Lebenslagen absichern wollen, statt einzelne Policen getrennt in der Sach- und Lebensversicherung zu zeichnen. Passt die Allianz langfristig nicht nur ihre Produkte, sondern auch ihre bisher siloartige Organisation an? Wie reagiert sie im kürzeren Zeitrahmen darauf, dass Kunden mehr Service verlangen?Klarheit herrscht an anderer Stelle: Eine durchgehende Digitalisierung lässt die Produktivität so stark steigen, dass viel weniger Beschäftigte die gleiche Leistung erbringen werden. Die Sprengkraft ist offensichtlich, wie der Blick auf die produzierende Industrie zeigt, die diesen Weg des Stellenabbaus schon gegangen ist.——–Von Michael FlämigDer neue Allianz-Chef Oliver Bäte schreibt sich die Kundenorientierung auf die Fahne. Was banal klingt, kann langfristig einschneidende Folgen haben.——-